Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer
Heiligabend.
Was ist los?
Warum schlägt Thilo Sarpat, 42, Einzelhandelskaufmann aus Kiel, einen unbewaffneten Mann mit einem Gewehr? Warum überlegt Sarpat allen Ernstes, ob er nicht gleich auf diesen Mann schießen sollte? Und warum brüllt er mit sich schier überschlagender Stimme eines der harmlosesten und unverfänglichsten Worte, das die deutsche Sprache hergibt?
Wir müssen die ganze Geschichte erzählen. Keine Angst, ihr werdet nichts verpassen, liebe Kinder. Es ist noch eine ganze Weile lang Heiligabend.
Der vierundzwanzigste Dezember genau dieses Jahres.
Seit vier Jahren, seit Töchterchen Antje alt genug ist, auf eine Reise mitgenommen zu werden, fahren die Sarpats zur Weihnacht ins Mangfallgebirge. Das ist innerhalb Deutschlands so weit weg, wie’s weiter kaum mehr geht, aber vielleicht ist das ja gerade der Reiz dran, das Exotische.
Das Mangfallgebirge liegt ganz im Süden Bayerns, an der Grenze zu Österreich, und hat mit der Benediktenwand immerhin einen Eins-Achter zu bieten. In der Nähe der gut siebenhundert Meter hoch gelegenen Ortschaft Sicheln bei Lenggries gibt es ein paar touristisch vermietbare, abgeschieden und idyllisch liegende Blockhäuserl, deren Klientel im Winter nicht aus Skihaserl und -rammlerl besteht, sondern aus Familien oder schriftstellernden Einsiedlern, die dem Kommerztrubel besonders der Weihnachtstage entfliehen wollen. Vor fünf Jahren war Thilo Sarpat von einem bayrischen Geschäftsfreund (sie waren beide in der Metallwerkzeugbranche tätig) auf ein Wochenende in eine dieser Hütten eingeladen worden, und seitdem schlug das Herz des Schleswig-Holsteiners Sarpat für die Berge. Seine Angetraute Friederike war nicht so begeistert von der Höhenluft und der besonders klirrenden Kälte, und am wenigsten ausstehen konnte sie den lauten und breitmäulig derben Dialekt, den die Leute hier unten sprachen, aber die Kinder liebten den tiefen Schnee und die Tannen, die Felsen und die komischen Leute mit den grünen Gamsbarthüten. Nils war jetzt zwölf, Antje sechs. Dies waren Antjes erste Schulweihnachtsferien , deshalb war sie diesmal besonders aufgekratzt.
Den Kofferraum wie jedes Jahr voller Geschenke für die Kinder, waren die Sarpats zwei Tage vor dem Heiligabend planmäßig in Lenggries eingetroffen, und hier hatten die Schwierigkeiten begonnen. In den letzten drei Tagen hatte es ununterbrochen geschneit, fette, saftige Flocken, die fast für sich schon die Größe von Schneebällen hatten, und die Räumfahrzeuge hatten alle Mühe, den Weg nach Sicheln überhaupt offen zu halten. Die Sichelner, harte Winter schon aus den mündlichen Überlieferungen gewohnt, hatten Vorräte gehamstert und taten ihrerseits nun nichts mehr, um den Kontakt zu halten. Sicheln hatte sich mit einem von der Umwelt abgeschnittenen Winterschlaf abgefunden.
Zwei Tage warteten die Sarpats nun mit verständlicher Ungeduld auf ein Durchkommen der Nachricht, dass die Straße nach Sicheln wenigstens teilweise wieder befahrbar sei. Lenggries war zwar ein schönes Städtchen, alle Lichter waren golden und rot, und der Schnee schimmerte in silbrigem Blau, und überall tönten Musikkassetten mit Weihnachtschören und duftete es nach Lebkuchen, Spekulatius und Zimtgebäck, aber es war eben doch nicht dasselbe wie auf der Hütte. Es war nicht abgeschieden, nicht familiär genug. Thilo Sarpat hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, jedes Jahr zu Weihnachten die Welt Welt sein lassen zu können, den lachenden Bartmännern in ihren roten Kostümen und dem dauernden Geklingel und Gebimmel zu entgehen. Weihnachten als Fest der familiären Einkehr und Beschaulichkeit – so wollte er es halten. Die Touristenfalle Lenggries war ihm zu laut dafür.
Wie gesagt, zwei Tage im Hotel. Hier lernten sie Nick Achtmann kennen.
Achtmann – Typ braver, fleißiger Student mit lustigem Lockenkopf und Brille – hatte außer einer professionellen Fotoausrüstung auch ein Snowboard im Gepäck, kam aus Regensburg und war, wie er sagte, nach Lenggries gekommen, um für die Reiseseite einer Regensburger Zeitung eine Reportage über die touristische Wertigkeit genau jener Blockhäuser zu machen, von denen die Sarpats eins regelmäßig mieteten. Er bot Thilo einen neuen braunen Tausender dafür, dass er die Sarpats begleiten und von ihrem Weihnachtsfest Fotos machen dürfte. Thilo war trotz des Tausenders nicht begeistert von der Idee, einen Fremden am Familienfest teilnehmen zu lassen. Ihn störte auch, dass Friederike den
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