Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer
einen ganz normal gemütlichen Weihnachtsfeierabend . Keinem außer Thilo schien so richtig aufzufallen, dass sich außer einem familienfremden Fotografen jetzt auch noch ein langhaariger Verbrecher in einem dicknahtigen Segeltuchmantel in ihrer Mitte breitmachte. Jener schob übrigens ungerührt den Geschirrschrank wieder vor die Außentür und grinste Thilo dabei aus einem Gesicht heraus an, das viel zu jung und gutaussehend war, um die Besorgnis des Ehemannes abflauen zu lassen. Thilo Sarpat überlegte sich allen Ernstes, welches Gericht auf dieser Welt ihn eigentlich verurteilen würde, wenn er jetzt einfach das Gewehr nahm und dem Einbrecher den Kopf wegschoss. Notwehr angesichts von Hausfriedensbruch, so konnte man das doch nennen.
Trotzdem. Nachdem Nils erst mal die Weihnachtsmusik im Radio angemacht hatte und der Zimmerbaum anfing, Lamettaschein zu verbreiten, und nichts so richtig zu eskalieren schien, stattdessen Friederike und Antje in der winzigen Küchenzelle anfingen, Bratäpfel vorzubereiten, und der Duft von Zimt und Vanille durch die Hütte wehte, nachdem das Kaminfeuer und die vom Generator gespeiste Elektroheizung anfingen, wohlige Wärme zu verbreiten und Thilo selbst aus den klitschigen, kalten Sachen rauskam, brachte auch er es nicht mehr fertig, pausenlos zu hassen. Er hasste dreihundertvierundsechzig Tage im Jahr, seine Konkurrenten, die Mistsäcke, mit denen zusammenzuarbeiten ihn die Wirtschaftslage zwang, seine Kunden, öfters seine Frau und – wenn sie lärmten – auch seine Kinder. An diesem einen Tag im Jahr in der Sichelner Hütte wollte er den Hass hinter sich lassen, einen goldenen Abend lang, und so ging es ihm auch jetzt. Er fand sich zu Gesprächen bereit.
So einiges über den Fremden klärte sich dabei auf. Sein Name war George. George Bailey. Ein in Deutschland aufgewachsener Sohn englischsprachiger Eltern. Er war hier in der Gegend rund um Sicheln mit einem alten klapprigen Volkswagen unterwegs gewesen, bis der kleine Klepper in einer Schneewehe versackte. Ohne Karten und Orientierung hatte George sich dann hoffnungslos verlaufen, bis er »durch pures Glück« die leerstehende Blockhütte gefunden hatte. Warum er nicht zu der anderen Hütte gegangen war, die doch erleuchtet war, wo also offensichtlich Menschen waren? Nun, er hatte zuerst diese hier gefunden und gedacht, wenn sie ohnehin leer steht, merkt’s ja keiner und macht’s ja auch nichts, wenn er sich für eine Nacht hier einquartiert. Die Tür? Ja, »so ’ne Art Dietrich, aber er ist mir draußen im Schnee runtergefallen. Ich hab ihn verloren.« Das Gewehr? Nun, das war ihm aus einem Schrank »entgegengefallen«, als er »die Ressourcen inspizierte«. Entwendet hatte er aber natürlich nichts. Die Angst vor den Wölfen? Na ja, gab er zu, er hätte »vorhin mal so’n komisches Geräusch draußen« gehört. Als es dann an den Fenstern kratzte und maunzte und die Tür mit Wucht aufgeschoben wurde, hatte er halt zum Gewehr gegriffen, denn dass es rechtmäßige Mieter sein könnten, damit habe er in seinem angespannten Nervenzustand nicht mehr gerechnet. Jeder konnte ja sehen, in welcher Notlage er sich befand. Sein einziges Gepäck waren zwei ineinandergestülpte Greenpeace-Seesäcke, in denen »ein bisschen was zu Futtern und ein paar Reisigruten« drin waren. Reisigruten? Na ja, »für die bösen Kinder«. Er hatte vorgehabt, Sichelner Kinder damit zu beschenken, war ja aber in Sicheln heute gar nicht mehr angekommen.
Komische Geschichte. Thilo schaute immer wieder zu den Seesäcken hinüber, die in der Ecke lehnten. Beide hatten den grün mit einem Regenbogen unterlegten Schriftzug dieser mediengeilen Umweltschützertruppe drauf, und der eine war von unten und der zweite von oben über etwas drübergestülpt, sodass das Ganze aussah wie die gelben Plastikteilhälften in einem Überraschungsei. Reisig. Komische Idee. Und Greenpeace. Das passte zu dem Langhaarigen. Ein Ökoweltverbesserer. Wenn Thilo die Greenpeace-Weiber mit ihren filzigen Haaren und den ungewaschenen Pullovern im Fernsehen sah, wurde ihm immer ganz anders. George hier hatte auch zwei dicke, ranzige Pullover unter seinem Mantel getragen. Mittlerweile hatte er jedoch Mantel und einen der Pullis abgelegt. Es wurde mollig.
Da nichts Schlimmes passiert war, kein Schuss gefallen und keine Handgreiflichkeiten, tat man gemeinsam so, als hätte man sich halt zum Feiern hier getroffen. Konfliktverdrängung. Schließlich war Weihnachten . Die Kinder
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