Hippolyt Hermanus 01 - Vino Criminale
serviert wurde, überließ Hipp seinen Freund wieder dem Fernseher, kostete vom neuen Wein und gab sich dem Risotto hin. Er liebte Risotto mit Spargel oder Scampi, vor allem aber mit Radicchio. Doch er aß nicht gern alleine. Zu zweit war die Nahrungsaufnahme entschieden lustbringender. Nun, ab morgen würde er für einige Zeit Gesellschaft beim Essen haben. Eine sehr gut aussehende zudem. Um zehn Uhr würde er Sabrina im Hospital abholen. Sie hatten vereinbart, eine kleine Reise durch Norditalien anzutreten – zu Plätzen, die ihr vertraut sein müssten, weil sie nach Auskunft ihres Vaters schon mal da gewesen war. Vielleicht half das ihrem Gedächtnis auf die Sprünge? Nur noch eine Nacht, in der Claudio auf sie aufpassen würde. Hipp war neugierig, was die nächsten Tage bringen würden. Er hatte das sichere Gefühl, dass sie für einige Überraschungen gut waren.
20
O bwohl sie mit den Grissini ihr Laken und Kopfkissen voll bröselte, konnte sie nicht davon ablassen, sich aus der Schachtel, die ihr Hipp am Nachmittag mitgebracht hatte, zu bedienen. Diese Brotstängel, die auf den Turiner Adel im 17. Jahrhundert zurückgingen, hatten zweifellos etwas Suchtgefährdendes an sich. Sabrina lag im Bett, es war gegen zehn Uhr abends, der Fernseher lief, ohne Ton, aber so fühlte sie sich nicht ganz alleine. Angst hatte sie keine mehr, sie wusste, dass vor ihrem Zimmer Claudio, ein pensionierter Polizist, Wache hielt. Das war sicher überflüssig, vermittelte aber ein beruhigendes Gefühl. Denn noch immer träumte sie von dem nächtlichen Besucher in ihrem Zimmer, nicht wirklich wissend, ob es ihn überhaupt gegeben hatte.
Morgen war es also so weit, sie würde aus dem Ospedale Le Molinette entlassen werden. Natürlich freute sie sich darauf. Aber sie war nicht frei von Beklemmungen. Wie würde sie sich draußen zurechtfinden? Welche Überraschungen hielt ihr Gedächtnis bereit? Wem würde sie aus der Vergangenheit begegnen? Vor allem, würde sie wieder zu sich selbst finden? Nun gut, sie musste dieses Abenteuer nicht alleine bestehen, glücklicherweise hatte sie Hipp an ihrer Seite. Sie vertraute ihm, er würde ihr helfen. Sabrina sah auf die Uhr. In wenigen Minuten würde die Nachtschwester kommen und ihr wie jeden Abend eine Kanne mit Pfefferminztee,
tè alla menta,
bringen. Und dann würde sie schlafen, tief schlafen.
Während Sabrina ein Grissino aus der Schachtel zog und mit ihren Gedanken beim morgigen Tag war, näherte sich ein Mann ihrer Krankenstation. Er hatte, um in den zweiten Stock zu gelangen, nicht den üblichen Lift genommen, sondern den Umweg über das Treppenhaus gewählt. Er wollte niemandem begegnen. Was nicht schwierig war, denn die Flure des Krankenhauses waren zu dieser späten Stunde wie ausgestorben. Das wusste er, immerhin war er vor einigen Tagen schon einmal unentdeckt bis in Sabrinas Zimmer vorgedrungen. Dort war dann nicht alles nach Plan gelaufen, was ausschließlich sein Fehler war. Er hatte sich zu viel Zeit gelassen, hatte gezögert, mit seinem Gewissen gerungen. Dies würde ihm heute nicht passieren. Er hatte womöglich nur noch diese eine Chance. Er würde sie nutzen, weil ihm keine andere Wahl blieb.
Er schlich den Gang entlang, man hörte nur das leise Quietschen seiner Gummisohlen auf dem Linoleumboden. Er hatte einen Arztkittel an, um seinen Hals hing ein Stethoskop. Auf der Nase balancierte eine alte, halbrunde Lesebrille. Das musste als Verkleidung ausreichen, falls ihm doch jemand über den Weg lief. Jetzt näherte er sich dem Knick des Flures, unmittelbar dahinter befand sich das Schwesternzimmer. Und etwa zwanzig Meter weiter auf der linken Seite war Sabrinas Zimmer. Vorsichtig spähte er um die Ecke. Ein Gummibaum gab ihm etwas Deckung. Wie erwartet, saß auf der Bank vor Sabrinas Zimmer der pensionierte Polizeibeamte. Neben sich hatte er einen Stapel Illustrierten liegen. Es sah ganz so aus, als ob Claudio eingenickt wäre, aber darauf wollte er sich lieber nicht verlassen.
Vor dem Schwesternzimmer stand ein Wägelchen mit einigen Wasserflaschen, Tabletten und einem Infusionsbeutel. Bald würde Margherita, so hieß die Nachtschwester, ihre übliche Runde durch die Krankenzimmer beginnen. Noch hörte er sie im Schwesternzimmer hantieren. Jetzt kam sie heraus und stellte eine rote Thermoskanne auf das Wägelchen. Er spürte, wie sein Herz schlug. Auf diese Kanne hatte er gewartet. Unbewusst tastete er in der Tasche seines Arztkittels nach der kleinen Glasflasche, die
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