Hippolyt Hermanus 01 - Vino Criminale
in die Arme nehmen würde, war ihr Bruder, genauer gesagt ihr Stiefbruder, von der ersten Frau ihres Vaters. Wie hieß er doch gleich? Richtig, Bill war sein Name, Bill Valentino aus Los Angeles. Ihr Stiefbruder, zu dem sie laut Hipps Unterlagen nur noch wenig Kontakt hatte. Wenn dem so war, was machte er dann in Mailand?
Hipp beendete sein Telefongespräch, Bill nahm seine Sonnenbrille ab, Sabrina stand auf. Die Umarmung war herzlich, jedenfalls von seiner Seite, Sabrina dagegen blieb etwas steif, sie wusste auch nicht, warum.
»Hey, sister. Wie geht’s dir? Alles okay?« Sein Lachen war offen und einnehmend. Er schüttelte Hipp die Hand. »Und Sie sind Hippolyt Hermanus, richtig? Freut mich, Sie kennen zu lernen. Ich bin wirklich froh, dass Sie sich um Sabrina kümmern.«
Er setzte sich auf den freien Stuhl, beugte sich nach vorne und stupste Sabrina mit dem Zeigefinger auf die Nase. »Gut schaust du aus. Nicht zu glauben, was du hinter dir hast. Tausend Küsse und Grüße von unserem Vater soll ich dir ausrichten.« Etwas verunsichert, weil Sabrina kaum reagierte, fragte er: »Du kannst dich doch an mich erinnern? Du weißt, wer ich bin? Bill, dein Bruder!«
»Stiefbruder«, korrigierte sie.
Bill lachte. »Besserwisserisch wie immer. Du hast dich nicht verändert.«
»Nein, ich kann mich nicht an dich erinnern«, sagte sie, »nur an ein Photo von dir, das mir Hipp vor einigen Tagen gezeigt hat.«
»Ist das wahr?« Bill schaute Sabrina fassungslos an. »Du hast wirklich einen totalen Blackout? Das gibt’s also echt? Wir haben zusammen gespielt, du hast mir mal mein Skateboard geklaut und zu Bruch gefahren, ich durfte nie auf deinem Pferd reiten … Das alles weißt du nicht mehr?«
Sabrina schüttelte den Kopf. Nein, an nichts von dem konnte sie sich erinnern.
Bill wandte sich an Hipp. »Aber unseren Vater würde sie schon erkennen, oder?«
»Vom Photo, ja, wie bei Ihnen, aber ich fürchte, nicht wirklich.«
»Unfassbar. Und wie lange hält dieser Zustand an?«
»Wenn ich das wüsste«, antwortete Hipp. »Ich hoffe, nicht mehr allzu lange, so etwas kann ganz plötzlich gehen.«
Bill sah Sabrina grinsend an. »Vielleicht muss man ihr erneut einen kräftigen Schlag auf den Kopf geben?«
Hipp lächelte. »Könnte funktionieren.«
»Ich halte das für keine so gute Idee«, protestierte Sabrina.
Ob er extra wegen ihr von Amerika nach Mailand gekommen sei, wollte sie wissen. Wie es ihrem Vater mit seinem kranken Herzen gehe?
Bill erzählte, dass er gestern einen geschäftlichen Termin in London gehabt und den heutigen Rückflug nach Los Angeles über Mailand gelegt habe, um sie zu treffen. Er sah auf die Uhr. In einer knappen Stunde müsse er leider schon wieder aufbrechen, um seinen Anschlussflieger zu erreichen. Ihrem Vater gehe es nach seiner Herzoperation relativ gut, er mache sich nur wahnsinnige Sorgen um Sabrina. Aber Gott sei Dank hätten sie ja Hipp, der auf sie aufpasse.
»Wie war eigentlich das Wetter heute Morgen in London?«, fragte Hipp beiläufig.
»Das Wetter? Regen, natürlich Regen. Und relativ kühl.« Er schüttelte sich. »In London möchte ich nicht leben. Außerdem ist mir die Santa Monica Beach entschieden lieber als die Themse.«
»Sie sind im Filmbusiness?«
»Ja, ich handle mit Filmrechten. Meine Firma verhökert Hollywood in die ganze Welt.«
»Das ist sicher sehr einträglich?«
Bill lehnte sich selbstzufrieden zurück. »Ziemlich einträglich, ja. Das ist ein Millionen-Dollar-Business.«
Auf Bills Frage berichtete Sabrina, was sie als Nächstes vorhatten. Zum Beispiel, dass sie nach Südtirol fahren würden, wo ja ihre Mutter herkam. Und dass Hipp mit täglichen Gedächtnisübungen, aber auch mit vertrauten Plätzen und persönlichen Vorlieben versuche, ihrer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Gestern seien sie in der Scala gewesen,
Othello
von Verdi. Sie beschrieb das phantastische Bühnenbild, die Kostüme der Desdemona, den wunderbaren Tenor von Othello, die Präsenz des Orchesters …
»Hat euer Vater eigentlich ein Testament gemacht?«, fragte Hipp unvermittelt.
Sabrina unterbrach verwirrt ihre Schilderung. »Woher soll ich das wissen?«
Auch Bill sah Hipp irritiert an. »Was soll diese Frage?«
»Nur so, das interessiert mich halt. Bill, Sie wissen doch bestimmt, ob Ihr Vater ein Testament gemacht hat? Also, vor so einer Herzoperation, da kann man eigentlich sicher davon ausgehen, dass er …«
»Stimmt, er hat vor der Operation ein Testament bei
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