Hippolyt Hermanus 02 - Toedlicher Tartufo
nahm ihre Hand und streichelte sie. Es dauerte, bis ihre Mutter wach wurde und sie ansah. Ein Lächeln huschte über ihr mageres Gesicht.
»Schön, dass du noch da bist«, flüsterte sie.
»Noch?«
»Du darfst nicht böse sein, dass ich eingeschlafen bin. Wo ist der Mann? Ist er gegangen?«
Gina gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Stirn. »Hippolyt? Ja, er musste weg.«
Eigentlich hatte sie sich dafür entschuldigen wollen, dass sie sich in den letzten Tagen nicht hatte sehen lassen. Aber ihrer Mutter war das Zeitgefühl gänzlich abhandengekommen. Vermutlich hatte sie wieder Morphium gegen die Schmerzen erhalten.
»Ein netter Mann. Und so wohlerzogen.«
Gina nahm ein Papiertaschentuch und tupfte ihrer Mutter den Speichel aus dem Mundwinkel.
Rosa hob zitternd die Hand. »Hast du dich mit deinem Vater ausgesöhnt? Er war nicht gut zu dir, weder zu dir noch zu mir. Aber es wäre mir lieber, wenn ihr euch vertragt.«
Gina streichelte ihrer Mutter die eingefallenen Wangen. »Mamma, Hubertus ist tot. Das weißt du doch.«
Rosa sah ihre Tochter mit großen Augen an. »Tot? Ach ja, richtig, habe ich vergessen. Er ist tot. Schön für ihn. Bei mir dauert es noch, aber ich glaube, nicht mehr lange.«
»Das darfst du nicht mal denken. Ich brauch dich doch.«
»Nicht mehr, Gina, nicht mehr. Du bist groß und kommst alleine klar. Ich bin müde, ich will schlafen, lange schlafen, für immer.«
Gina nahm ihre Mutter in die Arme. »Gut, ich lass dich jetzt schlafen. Aber nicht für immer, das musst du mir versprechen. Morgen komm ich wieder. Dann setze ich dich in den Rollstuhl und schiebe dich herum.«
Rosa zeigte ein leises Lächeln. »Aber nicht zu schnell, mir wird leicht schwindlig.« Sie hustete. »Und dann erzählst du mir von dem jungen Mann, der gerade hier war.«
»Von Hippolyt? Da gibt’s nicht viel zu erzählen.«
»Genau das interessiert mich.«
61
W ie immer machte Maresciallo Viberti nach dem Betreten des Caffè Calissano exakt drei Schritte, um dann abrupt stehenzubleiben. Fehlt nur noch, dass er die Hacken seiner polierten Stiefel zusammenknallt, dachte Hipp, der an einem kleinen Tisch in der Ecke auf den Maresciallo wartete. Viberti nahm jovial den Gruß von der Kasse entgegen und nickte Piero hinter dem Bartresen zu. Eine der jungen Bedienungen deutete grinsend mit zwei Fingern einen militärischen Gruß an. Viberti ließ seinen Blick durch den Raum wandern, nahm seine Uniformmütze ab und klemmte sie sich unter den Arm. Erst als er sicher sein konnte, dass ihn jeder gesehen hatte, vollführte er eine elegante Drehung nach links und steuerte auf Hipp zu, ihm ein Zeichen gebend, dass er sitzen bleiben solle.
»Dottore, schön, Sie wiederzusehen«, begrüßte er ihn. »Ich hoffe, es geht Ihnen gut.«
»Ich kann mich nicht beklagen, vielen Dank.«
Der Maresciallo setzte sich. »Und wie ich sehe, tragen Sie keine Handschellen. Sie konnten den Sottotenente also von Ihrer Unschuld überzeugen?«
»Was Sie sicherlich schon längst wissen.«
Der Maresciallo lachte. »Natürlich weiß ich das. Garrisaldo hat mir von Ihrem Gespräch berichtet. Ich habe ohnehin keine Sekunde daran gezweifelt.«
»Vielen Dank.«
»Wofür?«
»Für das gute Wort, das Sie bei Ihrem Kollegen für mich eingelegt haben, und für die Informationen, die Sie mir …«
Viberti schüttelte den Kopf. »Sprechen Sie nicht weiter. Ich lege grundsätzlich für niemanden ein gutes Wort ein. Erst recht gibt es von mir keine Informationen, welcher Art auch immer.« Er räusperte sich. »Aber Ihren Dank nehme ich trotzdem gerne entgegen. Wie wär’s mit zwei Caffè?«
»Corretto?«
»Selbstverständlich, mit etwas Grappa, um das Immunsystem zu stärken. Im Herbst kann man nicht vorsichtig genug sein. Überall schwirren Krankheitserreger herum. Da hilft nur Desinfektion mit Alkohol. Und man muss regelmäßig Trüffeln essen. Tartufi sind ein bekanntes Hausmittel gegen Influenza. Nicht ganz billig, doch sehr wirkungsvoll.«
»Aber es gibt sie nicht auf Rezept?«
»Nein, bedauerlicherweise nicht. Unser Gesundheitssystem ist knapp bei Kasse.«
Mit einem Fingerschnippen und einer gut funktionierenden Zeichensprache brachte Viberti die Bestellung quer durch den Raum auf den Weg. Zufrieden lehnte er sich zurück.
»Allora, Dottore, Sie wollen uns wirklich verlassen?«, fragte er.
»Ja, morgen reise ich weiter, zurück in die Toskana.«
»In die Toskana? Ich werde nie verstehen, warum Sie sich gerade dort niedergelassen
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