Hirngespenster (German Edition)
schiebe ihre Hand fort – nein, ich will das nicht sehen. Die Fotos, die hier auf dem Sideboard herumstehen, zeigen mich mit Ole und Nils, wie ich früher aussah. Daneben steht ein mir bekanntes Bild, das Sabina und Johannes als Teenager zeigt. Früher stand hier ein Hochzeitsbild von Johannes und mir, das haben sie offensichtlich verbannt. Genauso wie meine Kleider übrigens – im Schrank in meinem Zimmer ist kein einziges zu finden. Warum auch? Man musste mit der Vergangenheit abbrechen. Und passen würden sie mir inzwischen ohnehin nicht mehr.
Manchmal schiebt Sabina mich vor einen Spiegel, und ich kann mich nur anstarren. Wie sehr ich mich verändert habe. Regelrecht fett bin ich geworden, aber das stört sie nicht, sie hängt die Fotos von uns an den Kühlschrank in der Küche oder in einen Rahmen über dem Esszimmertisch, wo sie oft mit Lineal, Stoff und Schere hantiert. Manchmal kommt eine dicke Frau vorbei, Olga heißt sie, und knallt zwei große Säcke auf den Tisch. Zusammen halten sie die Stoffe gegen das Licht der Lampe und reiben sie zwischen ihren Fingern. Sabina greift nach einem Bund Papier, murmelt beim Durchlesen etwas von Zertifizierung und Qualitätsanforderungen und heftet das Dokument in einem dicken Ordner ab.
Olga hat überhaupt keine Hemmungen, mit mir umzugehen, sie gibt mir sogar Küsse, und ich lasse es mir gefallen. Sie spricht lustig, aber ich glaube nicht, dass sie auch aus Amerika kommt. Bei einem ihrer Gespräche konnte ich Folgendes in Erfahrung bringen: Zu der Zeit, als das mit meinem Zusammenbruch passiert ist, da wohnte Sabina in Bornheim, diesem Stadtteil ganz in unserer Nähe. Doch wie lange sie schon dort wohnte, das weiß ich nicht. Das heißt, ich sollte es wissen, denn Sabina und Johannes sprachen darüber, als ich nur still lauschen konnte. Die Erinnerung daran kitzelt an meiner Hirnrinde, aber selbst wenn ich mit dem Kopf gegen die Wand donnere, löst sie sich nicht aus ihrer starren Verankerung und purzelt in den Gedankenstrom.
Nein. Sie sitzt fest.
Dabei würde es mich einfach brennend interessieren.
Sabina
Sabina lag auf dem Rücken in ihrem Bett und hielt das schnurlose Telefon so fest in ihre Hand gepresst, dass es weh tat.
Johannes hatte sie vor einer Stunde angerufen, und seither verharrte sie in dieser Stellung und starrte an die Decke. Abgesehen von den Tränen, die sich ihren Weg über die Wangen in ihre Ohren bahnten, regte sich nichts an ihr.
Sie wollte nicht weinen, denn besonders in der Nacht war das Haus hellhörig, und Olga und Vladimir, ihre russischen Nachbarn, schliefen nur eine Wand weiter. Wenn sie anfing, richtig zu heulen, dann nicht ohne Zeugen. Der Kloß in ihrem Hals schmerzte, als hätte sie eine Handvoll Nägel verschluckt.
»Ich bin vor einer Stunde Papa geworden«, hatte Johannes geflüstert, die Stimme zittrig vor Glück. Seit Tagen hatte sie mit diesem Anruf gerechnet und sich innerlich dagegen gewappnet, doch nun, da er gekommen war, traf sie die Tatsache mit voller Wucht: Johannes und Silvie hatten ein Kind zusammen. Ein kleiner Junge war es. Ein Kind, das zwei Menschen auf ewig miteinander verband. Sabina legte das Telefon auf der Bettdecke ab und wischte sich die Tränen aus den Ohrmuscheln. Gerade in der letzten Woche hatten sie und Johannes ein philosophisches Gespräch über verpasste Zeitpunkte geführt. Es ging um Millisekunden, ob es auf der Autobahn zu einem Crash kam oder nicht. Man traf Entscheidungen, ohne an mögliche Konsequenzen zu denken. Oder daran, dass der andere zum selben Zeitpunkt Entscheidungen traf, die in die entgegengesetzte Richtung gingen. Wäre sie vor ein paar Monaten nicht nach Deutschland aufgebrochen und in dieser Zeit für ihn unerreichbar gewesen. Hätte er nicht so schnell aufgegeben und wäre auf die Idee gekommen, sich bei ihrer Mutter zu erkundigen, wie er sie erreichen konnte. Vielleicht hätte er die schwangere Silvie nicht geheiratet, sondern hätte sie verlassen und wäre mit ihr zusammengezogen? Aber nein, er hatte nichts gewusst von ihren Plänen, ihn zurückzugewinnen. Und als sie ihn endlich in Frankfurt fand, war es zu spät. Nicht für Gefühle, aber Silvie verließ er nicht. Sie waren frisch verheiratet. Er konnte sie nicht verlassen, das Leben hatte eine andere Abzweigung für ihn vorgesehen.
»Oder nicht?«, hatte er gefragt.
Was hätte sie sagen sollen?
Eben hatte Johannes es ihr überlassen, die entscheidenden Worte zu sprechen: »Es ist vorbei«, hatte sie geflüstert.
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