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Hirschkuss

Hirschkuss

Titel: Hirschkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Steinleitner
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Vorstandsvorsitzende persönlich in einem noch dazu sehr weit von der Konzernzentrale entfernten Waldstück tätig war, aber genau diese Frage würde sie Mattusek ja gleich stellen können. Womöglich war die Bio Wood World AG weit kleiner, als es ihr großspuriger Auftritt im Internet vermuten ließ.
    Relativ bald, nachdem sie mit dem Dienstwagen losgefahren waren, meinte Nonnenmacher, mit seinen dicken Wurstfingern auf die Zeitanzeige des Autos deutend: »Schon Mittag durch.«
    »Sie haben Hunger?«, fragte Anne mütterlich.
    »Schon«, erwiderte Nonnenmacher.
    »Leberkäsesemmel?«
    »Ja, oder?«
    »Gut.«
    »Ich geb eine Runde aus.«
    Anne sah ihren Chef erstaunt an. Was war in ihn gefahren?
    Nonnenmacher aber verzog keine Miene. »Wie viele?«
    »Eine.«
    Wenig später kam er mit einer großen Tüte zurück, und schon bald hielt Anne in der linken Hand eine dampfende Leberkäsesemmel, während sie mit der rechten lenkte. Nach der zweiten Leberkäsesemmel, die Nonnenmacher verdrückt hatte – insgesamt hatte er für sich vier mitgenommen –, öffnete er eine Flasche Helles und trank sie mit ein paar Schlucken zur Hälfte leer. Danach machte er erleichtert »Aaah« und schaute zu Anne hinüber. »Jetzt ist man wieder ein Mensch. Haben Sie eigentlich auch Durst? Ich hätt auch für Sie was zum Trinken dabei.«
    »Auch ein Bier?«, fragte Anne kritisch.
    »Na, eine Johannisbeerschorle.«
    Anne kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Was war mit ihrem Vorgesetzten geschehen? Sie hatte ihn bislang für den am wenigsten einfühlsamen Menschen der Welt gehalten, und jetzt brachte er ihr eines ihrer Lieblingsbrotzeitgetränke mit! Kurz spielte sie mit dem Gedanken, ihn zu fragen, ob alles okay sei, aber dann beschloss sie, zu schweigen und den Zustand einfach zu genießen.
    Nach gut zwanzig Minuten passierten die beiden die Mautstelle, die das Wild und den Wald vor dem Einfallen allzu vieler motorisierter Naturfreunde schützen sollte. Daran war ein Schild angebracht, das alles, was hinter der Schranke kam, zur »tschüssfreien Zone« erklärte. Natürlich wusste jeder Bayer, dass das Wort »tschüss« als Verabschiedung einer Beleidigung gleichkam, aber so ausdrücklich wie auf diesem Schild an der Mautstelle wurde Touristen dieser Sachverhalt selten erklärt.
    Minuten später erreichten sie das Ende des Forstwegs, der die ganze Zeit an einem kleinen Bach entlanggeführt hatte. Anne parkte den Wagen, stieg aus und sah sich um. Sie waren richtig. Wie Mattusek es beschrieben hatte, stand oberhalb des Bachs eine Almhütte mit Vordach, kleiner Holzbeige und zierlichem weißen Kamin. Das musste die untere Liedler Alm sein. Über der Hütte stieg eine Bergwiese steil auf, in der vier Birken in den Himmel wuchsen. Der Wanderweg führte in Serpentinen den Hang hinauf.
    »Das, wenn ich gewusst hätt’, dass Sie hierher gehen!«, keuchte Nonnenmacher nach wenigen Metern des Aufstiegs. »Dann hätt’ ich Ihnen den Hobelberger mitgeschickt. Das ist ja eine Himalajaexpedition!«
    Hobelberger war der Polizei-Azubi in der kleinen Dienststelle. Er war im Großen und Ganzen ein brauchbarer Lehrling, sah man einmal davon ab, dass sein Mofa frisiert war und er nicht gut mit der Tatsache umgehen konnte, dass er als Einziger in der Inspektion nicht die Erlaubnis hatte, eine Waffe zu tragen.
    »Das tut uns doch gut!«, munterte Anne den schweren Klotz auf.
    Doch Nonnenmacher schnaufte immer mehr, und so blieb Anne nach kurzer Zeit stehen und wartete auf den bärtigen Polizisten, der seine Uniformjacke mittlerweile ausgezogen hatte. Als er neben ihr stand, deutete er über das Tal, aus dem sie gerade aufstiegen, hinweg auf einen felsigen Gipfel und sagte: »Da ist der Schinder. Das ist dann schon Tirol.«
    Anne blinzelte in die Sonne. »Der ist aber ganz schön hoch, oder?«
    »Na, es geht, so gut achtzehnhundert Meter. Die höheren Berge sieht man erst, wenn man auf dem Schinder obendrauf steht. Da hat man dann alles vor sich: das Kaisergebirge und den Großglockner, den Großvenediger. Sogar das Zillertal und die Zugspitze sieht man von da.«
    Anne nahm einen tiefen Atemzug. »Es riecht hier richtig nach Sommer. Die Natur ist schon die Unschuld in ihrer reinsten Form. Schade, dass uns ein Verbrechen hier hinaufführt.«
    »Gar nicht weit von hier hat’s früher einmal einen Mord gegeben. Auf der Bernauer Alm. Da war eine junge Sennerin, die ist von einem Hagrainer Großbauernsohn schwanger geworden. Der hat sie aber nicht heiraten

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