Hirschkuss
exorbidanter Brechreiz, ein unerdrägliches Druckgefühl, schließlich Würgen, Kotzen …«
»Es reicht, es reicht!«, rief Nonnenmacher aus.
»Aber … könnte es nicht auch sein … dass …«, stammelte Kastner, »… dass der sich selbst gefesselt hat?«
Hierauf brach Nonnenmacher in schallendes Gelächter aus. »Und für was soll das gut sein?«
»Nun«, sprang Anne ihrem jungen Kollegen zur Seite. »Es wäre für uns schließlich nicht der erste Fall, in dem autoerotische Fesselungsspiele eine Rolle spielen. Bei allem, was wir über das Sexualleben des Verstorbenen wissen, sollten wir zu diesem Zeitpunkt keine Eventualität ausschließen.«
»Jetzt passt’s einmal auf, ich sag euch was: Diese Fesselungstheorie ist für mich der größte Schmarrn seit Erfindung des Tamagotchi!« Demonstrativ benetzte Nonnenmacher eine Fingerspitze mit Spucke und wischte damit das Fliegenblut vom Lineal. »Wenn’s nach euch gehen tät, dann hätt der feine Herr Holzspekulant sich erst selber gefesselt, dann mit Barbiepuppen gespielt und schließlich ein Milzbrandfleisch genossen. Im Wald. Und dann hätt er gewartet, bis er tot war. Und hätt sich die Fesseln selber wieder abgemacht. Ihr seid’s mir so Schneekönige, also, alles, was recht ist!«
»Ich denke, wir werden das Rätsel heute nicht mehr lösen«, meinte Schönwetter in die Stille hinein, sichtlich um einen sachlichen Tonfall bemüht. Er sah auf die Uhr. »Es ist schon halb sechs.«
»Und Samstag!«, ergänzte Nonnenmacher.
»Ich schlage vor, wir machen für dieses Wochenende Feierabend. Herr Mattusek wird nicht lebendiger, wenn wir hier noch länger im … Nebel stochern.« Schönwetter hüstelte und wedelte eine Rauchwolke, die zu ihm herüberwehte, weg. »Aber du« – er wandte sich an Johnny Fritzenkötter – »könntest den freien Tag morgen vielleicht nutzen, um noch einige Hypothesen zu entwickeln, wie die Fesselungsspuren, die Milzbrandgeschichte und die sexuellen Vorlieben des Toten zusammenhängen. Vielleicht findet sich doch noch ein Hinweis an der Leiche.«
Der Arzt verzog mürrisch das Gesicht, erwiderte aber nichts.
Als Anne, zurück im Dienstzimmer, in die Uniformjacke schlüpfte, verspürte sie das Bedürfnis, ihrem Kollegen noch etwas Nettes zu sagen, sie hatte genau gemerkt, dass es Kastner geschmerzt hatte, von Nonnenmacher ausgelacht zu werden. Also meinte sie: »Und du, Seppi, was machst du heute noch? Triffst du dich mit Jane?«
»Nein, das geht heute leider nicht«, meinte Kastner. »Die hat heut keine Zeit.«
»Seid ihr euch denn schon nähergekommen?«
Anne wollte wirklich nett zu ihrem Kollegen sein, der aber wurde rot. »Wie meinst du das jetzt?«
»Na ja, habt ihr euch schon geküsst oder Händchen gehalten oder so?«
»Ach so, so was meinst du.« Kastner dachte kurz nach und bemerkte dann: »Also, weißt du, Anne, das ist mir jetzt eigentlich zu privat.«
»Händchenhalten?«
Kastner schnaufte. »Also gut, dann sag ich’s halt: Wir haben so etwas Intimes noch nicht gemacht. Bislang waren wir nur gemeinsam unterwegs. So unternehmungsmäßig halt.«
»Unternehmungsmäßig, soso.« Anne beschloss, ihren Lieblingskollegen in Ruhe zu lassen. So richtig gut hörte sich das alles ja nicht an. Aber wer wollte schon mit Steinen werfen, wenn er selbst im Glashaus saß?
Als Anne wenig später ihr Fahrrad an die Hauswand lehnte und den Flur betrat, stutzte sie: Was roch hier so gut? Hatte Lisa etwa gekocht? Aber es roch nach gebratenem Fleisch! Seit wann konnte Lisa das? Da hopste die Neunjährige ihr bereits entgegen. Ihre Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten, ihre Wangen glühten rot.
»Nanu, hast du gekocht?«, fragte Anne, als das Mädchen ihr um den Hals fiel.
»Ja«, lachte Lisa stolz. »Komm rein!«
Anne betrat die kleine Küche. Der Tisch war gedeckt, eine Kerze sorgte für gemütliches Licht. Das Beste aber war, dass Johann am Herd stand. Er trat ihr entgegen und umarmte sie. Anne spürte sofort, wie sich ihr Körper entspannte. Sie schnupperte an Johanns Hals – konnte es sein, dass er nach Lavendel roch?
»He, können wir jetzt endlich essen?«, fragte Lisa. »Ich hab Hunger!«
Anne löschte das große Küchenlicht und setzte sich gemeinsam mit Lisa an den Tisch. Johann bediente die beiden. »Rinderfilet an Wildreis mit Bohnen und Rotweinsoße.«
»Ich habe die Bohnen geputzt«, erklärte Lisa stolz.
»Ihr zwei seid der Hammer«, meinte Anne und stürzte sich auf das Essen. Sie war unheimlich froh,
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