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Hirschkuss

Hirschkuss

Titel: Hirschkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Steinleitner
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über das Blutbad gleiten. Rechts unter einem Busch lag etwas, das aussah wie ein Fuß; weiter oben ein Stück Arm ohne Hand, aus dem mehrere Knochen ragten; an einem Baumstamm hing an einem kurzen Ast ein roter Batzen, der so unförmig war, dass man ihn keinem menschlichen Körperteil zuordnen konnte. Die Gliedmaßen waren in einem Umkreis von über dreißig Metern verstreut. Mehrere Bäume samt Wurzeln hatte die Explosion aus dem Boden gerissen und einen Krater von mindestens vier Metern Durchmesser in die Erde gewühlt. Der Wald sah aus wie nach dem Angriff einer der US -amerikanischen Drohnen, die neuerdings allerorten zum Einsatz kamen. Plötzlich rannte Kastner ein paar Schritte beiseite und übergab sich.
    »Was ist denn mit dir los, Seppi?«, rief Anne ihm hinterher.
    »Der kotzt«, kommentierte Nonnenmacher trocken. »Aber das hier ist ja auch eine seltene Sauerei.« Nachdem ihn die ekelhaften Vorgänge hier nicht an Essen erinnerten, blieb er selbst diesmal ziemlich ungerührt.
    Der Feuerwehrkommandant wandte sich Anne und Nonnenmacher zu. »Da gibt’s nix mehr zu retten. Ein Metzger hätt’ den nicht besser zerlegen können.«
    »Haben Sie schon eine Theorie, was passiert sein könnte?«, wollte Anne von dem Mann im Schutzanzug wissen.
    »Eine Theorie? Eine Explosion war’s halt. Aber wie die passiert ist: keine Ahnung.«
    »Wissen Sie, um wen es sich bei dem Opfer gehandelt haben könnte?«
    »Ja. Das war ein Holzfäller, der Nachtweih Steff.«
    »Steff Nachtweih?« Anne schluckte. Der einzige sympathische unter den vier Forstarbeitern, der mit dem eleganten Schnurrbart, sollte tot sein? Am Montag noch hatte er ihr einen Hirschkuss-Likör angeboten, während seine drei Kollegen völlig unangemessen ruppig zu ihr gewesen waren. »Auffi, obi, rum ums Eck«, murmelte sie gedankenverloren, dann sagte sie: »Woher wollen Sie das wissen?«
    »Was?«
    »Na, dass das hier …«, sie nickte mit dem Kopf in Richtung des Gemetzels, »der … also, dass das hier die Überreste von Steff Nachtweih sind?«
    »Seine Kollegen haben’s gesagt. Die sind da drin.« Er zeigte mit der behandschuhten Hand auf die Rettungswagen. Sein Funkgerät knackte und krachte. Eine Männerstimme redete unverständliches Kauderwelsch. Der Feuerwehrkommandant griff zu dem Gerät und teilte dem Hubschrauberpiloten mit, dass er hier nicht mehr benötigt werde. Kurz darauf entfernte sich das Geräusch der Rotoren.
    Während der paar Schritte, die Anne benötigte, um zu dem einen der beiden Rettungswagen zu gelangen, beobachtete sie einen Sanitäter, wie er vorsichtig ein Stück verkohltes Menschenfleisch in einen Plastiksack steckte. Schnell eilte sie zu ihm und sagte: »Halt, was machen Sie da?«
    Der Mann blickte unwirsch auf. »Einsammeln, was noch da ist, mein Fräulein. Auch ein Holzfäller hat ein Recht darauf, ordnungsgemäß tiefergelegt zu werden.«
    »Das dürfen Sie nicht!«, erwiderte Anne, ohne auf das unangemessene »Fräulein« einzugehen. »Wir müssen auf die Spurensicherung und die Rechtsmedizin warten. Das alles hier könnte die Folge eines Verbrechens sein. Hier im Wald ist erst kürzlich eine Frau verschwunden. Das alles hier könnten auch Leichenteile dieser Frau sein.«
    »Schmarrn«, meinte der Sanitäter und packte den brandig stinkenden Batzen in den Sack. »Nix Verbrechen. Nix Frau. Das ist der Nachtweih Steff. Jede Wette. Reden’S mit den Kollegen.« Er nickte in Richtung des Sanitätsfahrzeugs. »Die sind da drin.« Dann stopfte er ein blutiges Stück Knochen, das gut und gerne ein Teil einer menschlichen Wirbelsäule sein konnte, ebenso lieblos in die Tüte.
    »Halt! Nehmen Sie das sofort wieder raus! Dies ist eine polizeiliche Anweisung!«
    »Pfeifendeckel«, entgegnete der Mann ungerührt und fuhr mit seiner Arbeit fort.
    Anne machte einen Schritt auf ihn zu und packte ihn am Arm. »Sie hören jetzt sofort auf, Sie Hinterwäldler!«
    Der Mann richtete sich auf, schrie »Weg mit deine’ Bratzen«, entriss Anne den Arm und trat so nah an sie heran, dass Anne seinen Atem auf ihren Haaren spüren konnte. Plötzlich wirkte er groß und bedrohlich. »Von einem Fräulein lass ich mir schon einmal gar nix sagen.«
    »Seppi!«, rief Anne, ihre Stimme klang plötzlich ängstlich.
    »Was?« Auch Kastners Stimme hörte sich gebrochen an.
    »Komm mal.«
    »Ja, wart!« Sekunden später war Kastner bei Anne. Er wischte sich mit einem Taschentuch die Lippen ab. »Was ist da los?«, fragte er mit strengem Ton, als er sah,

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