Hiske Aalken 01 - Die Lebenspflückerin
hatten den Wächter kurz nach seinem Zusammentreffen mit ihm mit aufgeschlitzter Kehle gefunden. Zwar wusste keiner, dass Jan sich mit Johannes hatte treffen wollen oder dass er einen Brief von ihm bei sich trug, aber wie oft hatten doch die Wände Ohren. Er würde es nicht wagen, in die Stadt zurückzukehren, zumal man sein heimliches Verschwinden mit Sicherheit in Zusammenhang mit dem Mord an dem Wächter bringen würde. Man geriet zu schnell in Verdacht, wenn es den Menschen in den Kram passte. Im Übrigen war sich Jan inzwischen sicher, dass jeder, der zu viel über diesen Johannes wusste, letztendlich dem Tod geweiht war, sodass es für ihn ein doppeltes Risiko bedeuten würde, nach Amsterdam zurückzukehren. Es war richtig gewesen, so überstürzt abzureisen.
Die Mannschaft holte die Segel ein, die Ruderer setzten sich an die Riemenpaare und lenkten das Schiff in Richtung Emden. Morgen früh würde Jan Valkensteyn zum ersten Mal in seinem Leben einen Fuß auf ostfriesischen Boden setzen. Ob er dort sicherer war, wussten die Sterne oder Gott allein.
Hiske starrte den Jungen an, der auf den ersten Blick kräftig, fast bedrohlich wirkte. Doch ein Blick in seine Augen sagte ihr, dass sie es mit einem Kind zu tun hatte, das die Welt, in der es sich bewegte, gar nicht verstand.
»Komm her!«, forderte sie den Knaben auf. Der bewegte sich jedoch nicht von der Stelle, tastete nur mit der Hand zu seiner Tasche, aus der er mit einer blitzschnellen Bewegung ein Messer zog, das er fest mit beiden Händen umklammerte und drohend vor sich hielt. Hiske wich einen Schritt zurück, fing sich dann aber und lächelte den Jungen an. Er war ein Kind, auch wenn er wirkte wie ein junger Bulle.
»Ich tu dir nichts. Wer bist du?«
Der Junge schüttelte den Kopf, schien aber verunsichert, weil sie ihn nicht anbrüllte, sondern mit einer weichen, vertrauenerweckenden Stimme mit ihm sprach. Es machte auf Hiske den Eindruck, als sei er es nicht gewohnt, dass ein Mensch freundlich mit ihm umging, ja, dass er überhaupt wahrgenommen wurde. So kräftig sein Körper auch war, seine Augen, seine Miene und Gestik zeigten einen völlig verunsicherten und verängstigten kleinen Menschen.
»Wer bist du?«, wiederholte sie, deutete auf sich und sagte: »Hiske. Ich bin Hiske.« Dabei lächelte sie.
Der Knabe kam jedoch nicht näher. Sein Blick wanderte unstet hin und her, als konzentriere er sich nicht nur auf sie, sondern taxiere auch alles andere, was um ihn herum geschah. Er wirkte wie gehetztes Wild, das immer auf der Hut sein musste, so als ob er die Umwelt ständig in ihrer Ganzheit zu erfassen schien, unfähig, einen Teil herauszukristallisieren.
»Ich tu dir nichts, ich will dir helfen.« Hiske machte einen Schritt auf den Knaben zu. Dessen Nasenflügel weiteten sich augenblicklich, auch die Augen vergrößerten sich. Noch immer sah er aus, als würde er sofort das Weite suchen, wenn etwas Unvorhergesehenes geschah.
Hiske machte noch einen Schritt auf ihn zu, streckte ihm ihre Hand entgegen. Er wurde ruhiger, schien nicht mehr ganz so auf der Hut. Stück für Stück ließ er das Messer sinken. Dann rutschte ihm ein verunglücktes Lächeln übers Gesicht, doch anscheinend hatte er nur wenig Übung damit.
»Hast du Hunger?«, fragte Hiske, doch es war eindeutig, dass dieses seltsame Kind kein Wort von dem verstand, was sie ihm sagte.
Die Hebamme hatte in Jever einmal ein Mädchen kennengelernt, das völlig vernachlässigt und mit sehr wenig menschlicher Ansprache aufgewachsen war. Sie konnte die Welt nur verstehen, wenn sie aus einzelnen Worten neue zusammensetzte. Der Gebrauch der normalen Sprache war ihr zunächst verwehrt geblieben. Vielleicht gelang es ihr, den Jungen auf ähnlichem Weg zu erreichen. Hiske überlegte. Sie rieb sich über den Bauch, zeigte auf den Mund und sagte: »Bauchfreude. Bauchfreude.« Dann pflückte sie einen Stiel ihrer Kräuter ab und steckte ihn in den Mund. »Bauchfreude«, wiederholte sie.
Das hatte der Junge verstanden, und wie durch ein Wunder griff er das Wort auf und sprach es nach. Es klang noch etwas verunglückt, doch Hiske vermutete, dass es das erste Wort seines Lebens war, das er bewusst aussprach.
»Warte!«, wies sie ihn an, merkte aber, dass er das nicht verstand. Sie setzte sich hin, umschlang ihre Knie mit den Armen und überlegte kurz. Ein leichter Wind strich durch ihr volles schwarzes Haar. Der Knabe hatte es auch bemerkt, sah der Böe nach.
»Windgucken«, sagte Hiske, deutete
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