Hiske Aalken 02 - Der Meerkristall
sich wohl oder übel bald etwas zu essen besorgen. Das wenige gammelige Brot, das er in seinem Boot verstaut hatte, würde ihm nicht mehr lange reichen. Er brauchte Kraft für sein Vorhaben. Vielleicht konnte er irgendwo das Gekröse eines Hammels oder eines Bullen auftreiben. Es war nicht besonders schmackhaft, aber wenn er dazu noch eine Zwiebel hätte, könnte er es scharf anbraten, um den seltsamen Geschmack zu übertünchen. Als die Magd ihn bemerkte, hielt sie kurz an und musterte ihn. Über ihr Gesicht tanzte unverhohlene Neugierde. Aber als ihr Blick weiter nach unten bis zum Holzbein wanderte, erlosch ihre Aufmerksamkeit augenblicklich. Sie hatte sein Gebrechen erkannt, so gut er es auch getarnt hatte. Das Weib lief weiter, als habe sie Klaas Krommenga nicht bemerkt.
Der wartete noch kurz, versicherte sich, dass sie ihm wirklich keine Beachtung mehr schenkte, und begab sich zum Deich, um dort weiter über sein Vorhaben nachzudenken. Erst musste er etwas zu essen auftreiben, dann würde er die Hebamme suchen. Und finden, daran gab es keinen Zweifel. Irgendwo in dieser gottverdammten Einöde hielt sie sich versteckt. Und sie wusste nichts davon, dass er Witterung aufgenommen hatte.
Amsterdam 1529
Das Kind betrachtet das Schmuckstück am Hals der Mutter. Es schaukelt hin und her, während sich das Sonnenlicht in dem eingravierten Kristall spiegelt, als sei er tatsächlich mit all seinen Facetten vorhanden. Das Kind darf das Medaillon nicht berühren. Niemand darf das. Es gehört zu seiner Mutter, seit das Kind denken kann. Die legt es nicht einmal beim Schlafen ab. »Der Kristall ist mein Schutz vor allem Bösen. Und die Erinnerung an etwas, das hätte sein können, wenn die Welt eine andere wäre.«
Das Kind versteht die Worte nicht, vergisst sie auch rasch wieder. Es hat so viel verstanden, dass es ihnen gut geht, solange die Mutter das Medaillon trägt. Das Kind nennt das Schmuckstück den Meerkristall, weil er im Meer schwimmt und glitzert. Hineinsehen darf es aber nicht. »Dieser Anblick gehört nur mir, weißt du?«
Trotzdem wird die Suppe dünner, das Brot wird schmaler geschnitten. Bald gibt es keine Butter mehr und auch kein neues Paar Schuhe. Das Kind rennt in Lumpen herum, die es um die Füße wickelt.
»Gott der Herr schützt uns, passt auf uns auf. Sorge dich nicht! Dafür hat er mir ja den Meerkristall geschenkt. Wer uns Böses tut, wird bestraft, dafür sorgt der liebe Gott.« Mutter sagt es oft. Das Kind glaubt an diesen Gott, der im Himmel sitzt, auf sie herabblickt und seine Augen überall hat. Wenn Mutter das sagt, stimmt es.
Eines Tages müssen sie das große Haus verlassen und in eine dunkle Kammer am Rande der Stadt ziehen. Die Magd, die das Kind von klein auf kennt und mit der es in einer Kammer schläft, darf nicht mit, verschwindet wehklagend, und es sieht sie nie wieder.
»Wir kommen schon zurecht, dann eben mit etwas weniger«, sagt Mutter. Ihre Stimme aber klingt schon lange nicht mehr froh, und es gibt auch kein Leuchten in ihren Augen. Nicht einmal, wenn sie den Meerkristall ansieht.
Es ist kalt in der neuen Kammer, es gibt keinen Kamin, den sie am Abend anzünden können. Und die Feuerstelle in der Ecke des Raumes muss nach dem Kochen immer erlöschen, weil das Holz zum Feuern fehlt.
»Warum schützt uns der Kristall nicht?«, fragt das Kind. »Und Gott?«
»Sie schützen uns, aber anders, als du denkst. Wir haben ja immer noch uns«, sagt Mutter.
Wenn das Kind vor die Tür tritt, muss es durch knöcheltiefen Schlamm waten, der stinkt, weil sich darin die Essensreste und Exkremente der Bewohner zu einer undefinierbaren Masse vereinigt haben. Das neue Zuhause ist nicht schön.
Nacht für Nacht kriecht das Kind zur Mutter unter die Decke, weil sich die Männer in der Straße prügeln, weil die Weiber in den anderen Kammern laut sind und komische Geräusche von sich geben, die dem Kind Angst machen.
»Du musst dich nicht fürchten. Wir haben das Medaillon, und es schützt uns vor denen, die rings um uns herum so sind, wie sie sein müssen, damit sie nicht hungern.« Die Stimme der Mutter zittert, wenn sie all das sagt. Sie glaubt es eben selbst nicht.
Dann darf das Kind nicht mehr unter Mutters Decke, muss auf der Küchenbank schlafen, während die Bettstatt mit einem Laken abgehängt wird. »Du bist jetzt groß, du musst allein liegen.«
Nachts ist es besonders kalt, und das Kind will nicht allein schlafen. Mutter tut es auch nicht. Das sieht das Kind, weil das Laken
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