HISTORICAL Band 0272
können.“
Die Strecke schien sich eine Ewigkeit hinzuziehen. Wieder im Sattel des erschöpften Tieres, lehnte sich Eva müde an Jacks Rücken und barg die Wange an seiner Schulter. Die Erinnerung an Antoines wutverzerrtes Gesicht, an die auf sie gerichtete Pistolenmündung, das dumpfe Geräusch, als sie ihm die Flasche gegen den Hinterkopf geschlagen hatte – all diese Bilder und Laute tauchten immer wieder in ihr auf und ließen sie angstvoll zusammenzucken. Aber die Wärme, die Jack ausstrahlte, wirkte tröstlich. Sie beruhigte sich allmählich und nickte schließlich ein.
„Eva, wach auf“, hörte sie Jacks Stimme, der sich im Sattel nach ihr umdrehte. „Es fängt an zu regnen, wir müssen einen Unterschlupf finden.“
Verwirrt blickte sie um sich und stellte erschrocken fest, wie dunkel es in der Zwischenzeit geworden war. Der Himmel war schwarz, schwere Regentropfen klatschten auf den staubigen Weg. „Wo sind wir?“
Jack schwang ein Bein über den Sattelknauf, glitt zur Erde und hob ihr die Arme entgegen, in die Eva ermattet sank. „Mont-Saint-Jean liegt hinter dem nächsten Hügel, aber ich möchte nicht in einem Gewittersturm ins Dorf reiten, ohne zu wissen, was dort los ist. Dort könnten französische Truppen Zuflucht gesucht haben. Da drüben sehe ich eine Scheune.“
„Scheune“ war eine beschönigende Bezeichnung für den windschiefen Holzschuppen, in den es hineinregnete. Aber Eva wollte sich nicht beschweren, da der Regen bereits auf das undichte Strohdach prasselte wie Kugelhagel. Jack führte den Rappen ebenfalls in den Schuppen, nahm ihm den Sattel ab und band ihn neben einem Heuhaufen fest. Lustlos begann er zu fressen. Als Jack ihm allerdings einen Eimer Wasser hinstellte – draußen hatte er das Gefäß und einen Brunnen entdeckt –, trank er durstig.
„Eva, leg dich hin und versuche zu schlafen.“ Sie schleppte sich todmüde zu der Stelle, wo Jack die Satteldecke auf einer Schicht Stroh ausgebreitet hatte. Jäh hielt sie inne, als erneut Erinnerungsfetzen auf sie einstürmten, die sie mit Grauen erfüllten.
„Habe ich ihn getötet?“, fragte sie erschrocken, ihr Magen schien ein kalter Klumpen zu sein.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Jack in seiner ehrlichen Art. Dieser Mann würde mich niemals herablassend behandeln, dachte sie wehmütig, als er sie in die Arme zog. Sie lehnte sich mit einem tiefen Seufzer an ihn. Jack würde bestimmt dafür sorgen, dass alles wieder gut wird. Aber von ihrer Schuld konnte er sie nicht befreien, sollte sie ihren eigenen Schwager getötet haben. „Er hatte es darauf angelegt, uns zu vernichten, Eva. Was immer auch geschah, du hast in Selbstverteidigung gehandelt. Hättest du ihn nicht todesmutig mit deinem Pferd überrannt, wäre einer von uns tot. Du hast mein Leben gerettet und dein eigenes.“
„Er ist Freddies Onkel“, flüsterte sie tonlos. „Was soll ich ihm nur sagen?“
„Sag ihm, sein Onkel hätte eine falsche Entscheidung getroffen, sei mit seinen Truppen nach Frankreich marschiert, um sich mit dem Kaiser zu verbünden, und wurde am Ende auf dem Schlachtfeld getötet. Sollte Antoine überlebt haben, steht er als Verräter und Verlierer da. Er kann keine Anklage gegen zwei Menschen erheben, bei denen er den Versuch unternahm, sie zu töten.“ Jack streichelte ihr sanft über den Rücken, seine Berührung beruhigte sie und gab ihr ein wenig Kraft.
Sie hob den Kopf, um ihm ins Gesicht zu sehen, und hielt den Atem an, als sie den Ausdruck unverhohlener Zärtlichkeit in seinen Augen las. Nur einen flüchtigen Moment, dann hatte er sich wieder im Griff. Aber auch das verwegene Funkeln in seinen grauen Augen war plötzlich verschwunden. Sein Blick wirkte beinahe traurig.
„Jack?“
„Wir sind beide müde.“ Er wandte sich ab. „Wir ruhen uns aus, bis es aufgehört hat zu regnen. Bei diesem Unwetter finden mit Sicherheit keine Truppenbewegungen statt.“
„Einverstanden.“ Eva nickte. Sie war zu müde, um darüber nachzudenken, was sich in Jack verändert hatte. Er war bei ihr, im Moment zählte nichts anderes.
Jack erwachte jäh, blieb mit geschlossenen Augen liegen und versuchte, herauszufinden, was ihn geweckt hatte. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, sich still zu verhalten, bevor er zu erkennen gab, dass er wach war. Eine lange Narbe quer über seinem Brustkorb erinnerte ihn täglich daran.
Seine innere Uhr sagte ihm, dass es kurz nach Tagesanbruch sein musste. Kein verdächtiges Geräusch drang an seine
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