HISTORICAL Band 0272
sich etwas zuschulden hatte kommen lassen, sonst hätte Wellington nicht so respektvoll mit ihm gesprochen. Offenbar machte ihm dieses Dasein wirklich Spaß.
Ihr Geliebter war also ein Lord, überlegte Eva. Der Sohn eines Dukes. Ein ausgesprochen angesehener Rang für einen Liebhaber. Wobei es ihr völlig gleichgültig war, ob er ein Aristokrat oder einfacher Bürger war, sie liebte ihn. Im Übrigen war er nicht mehr ihr Geliebter. Möglicherweise kam er heute Nacht zu ihr ins Zimmer – falls er das schaffte, ohne einen Skandal zu riskieren. Aber es wäre nicht mehr wie vorher. Auf ihrer beschwerlichen Reise durch Frankreich waren sie nur Flüchtlinge, die keiner kannte, sie waren frei und ungebunden gewesen, einfach nur Eva und Jack. Lediglich Henrys Missbilligung hatte sie daran gemahnt, was die Welt von ihrer Liaison halten würde.
Wenn sie jetzt an Jack dachte, ihn ansah, musste sie ständig auf der Hut sein. Wenn sie ihm nah war, musste sie darauf achten, ihn nicht zufällig zu berühren. Wenn sie alleine waren, bestand die Gefahr, heimlich beobachtet oder belauscht zu werden. Sie mussten befürchten, dass ihre innige wunderschöne Beziehung in den Schmutz gezogen wurde, sich zu einem Eklat ausweitete, an dem böse Zungen sich ergötzten.
Eva schlug das Adelsregister zu, stand auf und wog es in der Hand. Dann trat sie an den Bücherschrank, zog die Bibliotheksleiter heran, stellte den Almanach an seinen Platz zurück und blieb unschlüssig auf der Leiter stehen.
Jack und sie hatten die Reise mit einem bestimmten Ziel angetreten, hatten allen Gefahren getrotzt, die nun hinter ihnen lagen. Eva war an einer Zwischenstation angelangt, wenn auch nur für eine kurze Weile, und plötzlich erschien ihr alles fremd und sinnlos. Sie war machtlos, lediglich eine Schachfigur, mochte sie auch die Königin sein, die von unsichtbaren Spielern auf dem Brett hin und her geschoben wurde. Durfte sie eigentlich hier sein – oder sollte sie in Maubourg sein? Was wäre, wenn Philippe seiner Krankheit erlegen war und Antoine sich auf dem Rückweg befand? Vielleicht war das Herzogtum im Moment ohne eine lenkende Hand. Zugleich sehnte sie sich schmerzlich nach Freddie. Angst und Unschlüssigkeit nagten an ihr. Welcher Schritt war der richtige?
„Wovon träumst du?“ Jack stand so dicht neben der Leiter, dass sie erschrocken zusammenfuhr und beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Er hob ihr die Arme entgegen, und ohne auf ihre inneren Warnungen zu hören, suchte sie seinen Halt, sank ihm in die Arme und glitt an seinem Körper entlang, nur um festzustellen, dass die innige Berührung ihn ebenso erregte wie sie.
„Deine Hosen sind zu eng für solche Vertraulichkeiten“, stellte sie fest, trat einen Schritt zurück und heftete den Blick auf den sichtbaren Beweis seiner Zuneigung. „Ich habe nicht geträumt, ich dachte nur an Schachfiguren“, fügte sie hinzu.
„Was du nicht sagst. Aber du hast recht, ich bleibe besser hier und vertiefe mich in ein langweiliges Buch, während du dich zurückziehst.“ Er begann mit gespielt ernster Miene die Buchrücken zu studieren.
„Mach dich nicht über mich lustig. Ehrlich gestanden ziehe ich in Erwägung, nach Maubourg zurückzukehren. Überlege bitte: Vielleicht ist Phillippe verstorben. Oder Antoine kehrt demnächst zurück. Was geschieht, wenn der König erfährt, dass unsere Truppen die Grenze überschritten und sich Napoleon angeschlossen haben? Wird er in Maubourg einmarschieren und die Unabhängigkeit des Herzogtums für nichtig erklären? Die Franzosen lauern doch nur darauf, sich das kleine Land einzuverleiben.“
Jack drehte sich langsam auf dem Absatz um und betrachtete sie nachdenklich. „Soll das heißen, du ziehst in Erwägung umzukehren und in diesen unsicheren Zeiten durch ganz Frankreich zu reisen, in dem Bonaparte immer noch sein Unwesen treibt?“
„Es ist vielleicht meine Pflicht.“ Eva bemerkte, dass sie verzweifelt die Hände in ihre Röcke krallte – sie zwang sich, damit aufzuhören.
„Und dein Sohn?“
Sie schüttelte hilflos den Kopf. „Ich wünsche mir nichts lieber, als bei ihm zu sein. Aber habe ich das Recht dazu? Wie soll ich wissen, was meine Pflicht ist?“
„Zur Hölle mit deiner Pflicht“, herrschte Jack sie an. „Ich weiß nicht, was mit dem Großherzogtum Maubourg geschehen wird, und es ist mir auch einerlei. Ich weiß nur, was meine Aufgabe ist. Und die besteht darin, dich nach England zu bringen zu einem kleinen Jungen, der
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