HISTORICAL BAND 295
mussten.
Elgiva wandte den Blick ab und sah hinüber zu einer anderen Gruppe von Wikingern, die außerhalb der Palisaden einen Rammbock in Stellung brachten. Vor Entsetzen wie gelähmt, beobachtete Elgiva, wie der Baumstamm wieder und wieder gegen das Tor gerammt wurde.
Doch auch wenn die Verteidiger versuchten, die Angreifer mit Pfeilen und Steinbrocken zu vertreiben, mussten sie sich geschlagen geben. Ein ungeheures Krachen verkündete schließlich, dass das Tor nachgegeben hatte. Unter Triumphgeheul drangen die Nordmänner durch die geschlagene Lücke ins Innere der Anlage ein.
Hilflos musste Elgiva mit ansehen, wie die Verteidigung zusammenbrach und ihre Leute sich immer weiter in Richtung des Turms zurückziehen mussten. In ihrer Mitte machte sie Aylwin mit seinen Männern aus, die Schulter an Schulter kämpften. Ein halbes Dutzend Wikinger fiel Aylwins Klinge zum Opfer, während die Gruppe seiner Getreuen um ihn herum immer stärker zusammenschrumpfte. Die Verzweiflung ließ die angelsächsischen Krieger über sich selbst hinauswachsen, sie schlugen auf den Gegner ein, wehrten Schwert- und Axthiebe ab, entschlossen, ihr Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Dennoch wurde einer nach dem anderen niedergestreckt. Unverdrossen kämpfte Aylwin weiter, doch dann wurde sein Schwert von einer großen Streitaxt getroffen, der Stahl erzitterte und zerbrach. In einem letzten trotzigen Aufbegehren schleuderte Aylwin seinem Kontrahenten das Heft seines Schwerts entgegen, dann traf ihn die Klinge des Feindes, und er sank zu Boden.
Elgiva presste sich eine Hand auf den Mund, um ihren Entsetzensschrei zu unterdrücken, gleichzeitig blinzelte sie die Tränen fort. Wenn sie Schwäche zeigte, half das weder Aylwin noch den anderen Burgbewohnern, die auf sie angewiesen waren. Sie zwang sich zur Beherrschung, wandte sich vom Fenster ab und blickte die anderen im Raum ernst an. Als Hilda ihre versteinerte Miene sah, stieß sie ein ersticktes Schluchzen aus und presste den kleinen Pybba an ihre Brust. Das Kindermädchen war erst sechzehn und stand sichtlich Todesängste durch. Osgifu stand kreidebleich, aber schweigend daneben und hatte einen Arm um den dreijährigen Ulric gelegt, der sich verängstigt an ihren Rock klammerte. Die übrigen Dienerinnen konnten ein Schluchzen nicht unterdrücken.
Wütende Hiebe gegen die verbarrikadierte Tür des Gemachs kündeten davon, dass die Invasoren die Halle bereits durchquert und das obere Stockwerk erreicht hatten. Elgiva stand an der Tür, die unter den Axthieben erzitterte. Ein Loch war bereits im Holz entstanden; je größer es wurde, desto deutlicher waren die Klingen zu sehen. Ihr Herz schlug vor Aufregung rasend schnell, während sie zur gegenüberliegenden Wand zurückwich und voller Entsetzen mit ansah, wie immer größere Stücke Holz aus der Tür flogen. Mit jedem Moment fiel es ihr schwerer, ihre Angst unter Kontrolle zu halten. Sie umfasste das Heft ihres Schwerts, atmete tief durch und zog die Klinge aus der Scheide.
In diesem Augenblick gab die Tür dem Ansturm nach und wurde aus den Angeln gerissen, sodass die vordersten drei Männer mit ihr zusammen auf dem Boden landeten. Sie rappelten sich auf, drangen in das Gemach ein, dicht gefolgt von einem halben Dutzend weiterer Krieger. Der gierige Blick dieser Männer fiel sofort auf die ängstlich zusammengekauerten Frauen und Kinder, dann traten sie vor und packten als Erstes die Dienerinnen. Einer von ihnen brachte Hilda in seine Gewalt, die mit einem Arm den Säugling an sich drückte und mit der anderen Hand den verängstigten Ulric festhielt. Osgifu versuchte sich schützend vor sie zu stellen, doch der Wikinger versetzte ihr einen Schlag, der sie nach hinten schleuderte und mit dem Kopf gegen die Wand schlagen ließ. Benommen sank sie zu Boden, während Hilda aufschrie und sich gegen den Krieger zur Wehr zu setzen versuchte, der ihren Arm umklammert hielt.
Außer sich vor Wut darüber, dass man mit den Schwachen und Hilflosen so umsprang, ging nun Elgiva dazwischen. „Lass sie in Ruhe! Lass sie los!“
Ihr Protest war vergebens, sie lenkte damit lediglich die Aufmerksamkeit eines anderen Kriegers auf sich. Er war groß und gut gekleidet, Haupt- und Barthaar waren blond, und man hätte ihn wohl als gut aussehend bezeichnen können, wäre da nicht dieses grausame Lächeln gewesen, das seine Lippen umspielte.
„Na, was haben wir denn hier?“
Vor Abscheu und Wut schoss Elgiva das Blut in die Wangen, und sie hielt
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