Historical Band 298
erschrocken über die Schulter blickte und dann auch laut zu lachen begann. Die Vorübergehenden sollten glauben, sie lachten beide über einen Scherz.
Nach Luft schnappend lehnte die Frau sich schließlich an die Mauer und schüttelte den Kopf. Ihre Blicke trafen sich, und einen Moment lang waren sie einfach nur zwei Frauen, die einander verstanden.
„Und du lebst so? Als Mann?“, fragte sie und machte neugierig große Augen. „Die ganze Zeit?“
Jane nickte. „Sie nennen mich Little John.“
Die Frau musterte sie von oben bis unten. Jane warf sich in Positur und hoffte, dass sich ihre Brüste dabei nicht abzeichneten. Wie sah sie in den Augen eines Menschen aus, der wusste, was er da sah?
Interesse, ja, sogar so etwas wie Neugier blitzte in den Augen der Frau auf. „Deine Kleider sind also ein guter Schutz gegen sie?“
Gegen sie. Als wären ihre Freunde bedrohliche Feinde. Wie sollte sie ihr erklären, dass sie sich nicht verkleidete, um sich vor ihnen zu schützen, sondern um bei ihnen sein zu können?
Außer, wenn sie zu viel getrunken hatten und eine Frau auf der Straße bedrohten.
„Sie glauben, ich bin einer von ihnen.“
„Aber wie tust du … äh …“, die Frau maß sie von oben bis unten mit einem bedeutsamen Blick, „… pinkeln und das alles?“
„Ich erzählte ihnen, ich hätte eine Verletzung und wäre sehr schamhaft.“ Deshalb ließen sie sie allein zu dem kleinen, dunklen Bretterverschlag hinten im Hof gehen. Anfangs hatten die anderen Jungen sie gnadenlos verspottet, und hätte Duncan sie nicht geschützt, wären sie vielleicht weiter gegangen. „Sie vermuten, dass sich das legt.“
Die Frau hob skeptisch die Brauen. „Und wie lange ist es her, dass du gebadet hast?“
Zu lange. „Ich wasche mich schnell, während sie im Unterricht sind.“ So war das Wasser noch warm, wenn sie hineinsprang. „Keiner ahnt es.“
„Männer.“ Ihre Begleiterin schüttelte den Kopf. „Sie sehen nur, was sie zu sehen erwarten, nicht wahr?“
„Ich hoffe es.“ Jane sah diese Frau an, deren Leben all das verkörperte, dem sie zu entfliehen suchte. „Wenn ich als ein Mann lebe, kann ich frei sein.“
Die Frau beugte sich zu ihr. „Und wie ist es?“
So standen sie und die Schankmaid, die sich als Hawys vorstellte, den Rest des Nachmittags im Schatten, und Jane erzählte flüsternd über ihr Leben auf der anderen Seite der Mauer.
Sie fühlte sich so entsetzlich allein, dass es eine Erleichterung war, endlich mit jemandem darüber sprechen zu können. Und während sie ihre Geschichte erzählte, gestand sie sich das erste Mal ein, dass dieses Leben nicht so wundervoll war, wie sie es sich vorgestellt hatte. Stimmen waren laut. Stoffe rau und kratzig. Es gab so wenig Sanftes oder Weiches, um die Ecken und Kanten des Lebens abzupolstern.
Die Männer hatten sich darüber lustig gemacht, dass sie einen Tisch abwischte oder das Bettstroh aufschüttelte. Also tat sie es, wenn niemand zusah, und versuchte so, ein wenig Schönheit, Ordnung und Bequemlichkeit in ihr tägliches Leben zu bringen.
Einer anderen Frau konnte sie das erzählen, selbst einer, die so anders war als sie.
Eine Frau verstand so etwas.
Allerdings sagte sie ihr nicht, dass die Unabhängigkeit, um derentwillen sie fortgelaufen war, sich als trügerisch erwiesen hatte.
Vielleicht konnte nur ein König immer tun, was er wollte.
„Hast du keine Familie?“, fragte Hawys, nachdem sie alles gehört hatte.
„Ich bin fortgelaufen.“ Jane fühlte wieder die Scham in sich aufsteigen.
„Haben sie dich schlecht behandelt? Bist du deswegen fortgelaufen?“
Jane schüttelte den Kopf. Gab es tatsächlich Familien, die ihre Angehörigen misshandelten? Ihr hatte lediglich die Enttäuschung ihrer Mutter einen Stich versetzt.
„Meine Schwester lag in den Wehen. In Frauensachen bin ich nicht gut, musst du wissen. Ich weiß nicht, was zu tun ist, und wenn ich es versuche, mache ich alles falsch und …“ Die hilflose Furcht vor der dunklen Wochenbettkammer und ihrer stickigen Luft übermannte sie wieder. Tränen brannten ihr in den Augen, und ausnahmsweise war sie froh darüber, sie nicht verbergen zu müssen. „Und jetzt weiß ich nicht, wie es ihr geht oder was aus dem Kind geworden ist.“
Als Hawys ihr auf die Schulter klopfte und mitleidig mit der Zunge schnalzte, fühlte Jane sich getröstet wie schon seit Wochen nicht mehr.
Frauen denken nicht, sie fühlen, hatte Duncan gesagt. Nun, sie war eine Frau, und sie fühlte.
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