Historical Band 298
Nachdem sie ihre Gefühle wochenlang unterdrückt hatte, ließ der Ansturm ihrer Empfindungen jetzt ihr Inneres vibrieren wie die straff gespannte Saite einer Laute. Sie hatte Wochen damit zugebracht, nur auf ihren Kopf zu hören statt auf ihren Körper und ihr Herzen. Es fühlte sich gut an, zu weinen und sich die traurige Wahrheit einzugestehen.
Vielleicht war sie doch mehr Frau, als sie geglaubt hatte.
Sie rieb sich mit dem Ärmel die Augen. „Ich wünschte, ich wüsste, ob es Solay und dem Kind gut geht. Aber wenn ich ihnen eine Botschaft schicke, wissen sie, wo sie mich finden können.“
„Ich könnte meinen Bruder schicken.“
„Das würdest du tun?“ Zum ersten Mal seit Wochen schien eine Last von ihr abzufallen. „Könnte er es wirklich in Erfahrung bringen?“
Sie nickte. „Er ist geschickt und schlau. Er wird es herausfinden.“
Geschickt und schlau. Das musste er auch sein, wenn er auf der Straße lebte. „Aber wenn er mit ihnen spricht, werden sie wissen, wo sie mich finden können.“
Hawys dachte einen Moment lang nach. „Er kann ja sagen, er hätte dich zusammen mit einigen Pilgern auf dem Markt gesehen. Und er könnte sich nicht daran erinnern, zu welchem Schrein du unterwegs warst.“
„Oh danke, danke!“ Diese Fremde und ihr Bruder brachten ihr ein großes Opfer. Sie war auf den Straßen gereist. Es würde nicht leicht sein. „Wie kann ich es dir vergelten? Und ihm?“
„Ich wette, deine Familie wird ihn für eine Nachricht von dir belohnen.“ Hawys Lächeln verriet, dass sie aus Erfahrung sprach.
Jane hätte sie gerne gefragt, ob sie eine Hure war, aber sie wusste nicht, wie sie es machen sollte, ohne sie zu beleidigen.
Hawys musterte sie immer noch ausgiebig. „Und was willst du machen, wenn sie es herausfinden?“
„Das werden sie nicht. Das dürfen sie nicht. Nie.“ Für kurze Zeit war es tröstend gewesen, sich wieder wie eine Frau zu benehmen. Aber sie konnte nicht mehr wie eine Frau leben. Nie mehr. „Ich werde meinen Bakkalaureus machen und danach in die Dienste des Königs treten. Dann kann ich die ganze Welt bereisen.“
Auch wenn das Leben, so wie sie es sich vorgestellt hatte, ohne Duncan keinen Glanz zu haben schien. Welche Bedeutung hatte dann wohl noch ihr Versprechen?
„So, so, wirst du das?“ Ihre neue Freundin sah nicht sehr beeindruckt aus. „Na ja, du bist ein ganz passabler ‚Little John‘. Aber bald werden sie bei dir nach starken Schultern und einem Bart Ausschau halten.“
„Irgendwie wird es schon gehen.“ Sogar in ihren eigenen Ohren klang es nicht sehr überzeugend. Leben als ein Mann im Dienste des Königs. Milde ausgedrückt war ihr Plan ziemlich schlecht durchdacht.
„Möchtest du nicht heimkehren? Und wieder eine Frau sein?“
Hilflos und ihnen auf Gnade und Ungnade ausgeliefert wie du? Wie konnte Hawys das auch nur fragen! „Nein.“
Im selben Augenblick wusste sie, dass es Momente mit Duncan gab, in denen sie sich nach etwas sehnte, das nur eine Frau erleben konnte.
„Aber was ist mit deiner Familie?“
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Schwester. Ihre Mutter. Heimkehren würde bedeuten, ihnen in die Augen zu sehen und ihr Scheitern zugeben zu müssen. „Ich vermisse sie.“ In den vergangenen Wochen hatte sie gelernt, trotz des Kloßes in ihrer Kehle mit fester Stimme zu sprechen. „Aber ich kann nicht zurück.“
Denn auch wenn das Leben eines Mannes nicht so leicht war, wie sie es sich vorgestellt hatte – das Leben einer Frau, wenn sie nicht so behütet lebte wie Jane, war härter.
Außerdem hatte sie die Grenze überschritten. Sie konnte nicht zurück auf die andere Seite, wo eine Frau für jeden Mann, der Lust hatte, sie auf der Straße zu küssen, zur Beute wurde.
8. KAPITEL
J a ne saß allein im halbdunklen Aufenthaltsraum und murmelte laut ihr Latein vor sich hin. Eine Kerze wagte sie nicht anzuzünden. Es war immer noch früh im Semester, und die Männer des Solar Hostel hatten beschlossen, den Jahrmarkt von Stourbridge anziehender zu finden als ihre Studien.
Sie aber war zu Hause geblieben und fühlte sich jetzt benachteiligt und tugendhaft zugleich.
Du musst lernen, Little John. Das kann ich dir nicht abnehmen, hatte Duncan nur gemeint.
In der letzten Woche hatte sie ihn selten zu Gesicht bekommen. Jeden Tag stand er noch vor der Morgendämmerung auf, um St. Michael’s aufzuschließen, hielt dann rasch seine Vorlesung, unterrichtete zwei zahlende Studenten und traf sich danach mit einem
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