Historical Saison Band 06
Amy, warum sie Sarah nicht die ganze Geschichte gebeichtet hatte. Wahrscheinlich hätte Sarah ihr etwas über den rätselhaften Fremden erzählen können. Aber vielleicht auch nicht. Denn wenn sie etwas darüber wusste, hätte sie doch bestimmt davon gesprochen. Sarah pflegte keine Geheimnisse vor ihr zu haben, und es würde sie gewiss verletzen, wenn sie erfuhr, dass sie etwas vor ihr verbarg.
Nichtsdestotrotz fühlte Amy sich an das naive Versprechen gebunden, das sie dem Mann gegeben hatte. Und wenn sie ganz ehrlich war, faszinierte sie der Unbekannte. Warum hatte er ihr verboten, ihn gegenüber Major Lyndhurst zu erwähnen? Der Major musste doch in jedem Fall wissen, dass sich ein Fremder in seinem Schlafzimmer aufhielt. Und der Kammerdiener des Majors ebenso. Er musste doch …
Amy hielt inne und richtete ihre Haube gerade. Ja, Timms wusste mit Sicherheit Bescheid. Amy hatte mit angehört, wie er eines der jungen Stubenmädchen angewiesen hatte, das Schlafzimmer des Majors nur dann zu reinigen, wenn er selbst zugegen war. Zu diesem Zeitpunkt hatte das in ihren Ohren sehr sonderbar geklungen. Sie hatte angenommen, Timms wolle das Eigentum seines Herrn schützend im Auge behalten und unbedingt verhindern, dass das Stubenmädchen irgendetwas Kostbares zerbrach. Aber was, wenn es um weit mehr ging? Sehr mysteriös. Ja, vieles in diesem Haus war und blieb nebulös. Genau, wie Ned es in seinem Brief beschrieben hatte.
Des Rätsels Lösung musste sich also in Major Lyndhursts Schlafzimmer befinden.
Sobald ich sicher sein kann, dass die Gäste sich im Erdgeschoss befinden, werde ich es herausfinden. Egal, welches Risiko ich dabei eingehe .
Als Amy erneut vor der Schlafzimmertür des Majors stand, hatte sie sich eingeredet, dass der ominöse Fremde längst verschwunden war. Seit ihrer Begegnung waren schließlich schon mehrere Tage vergangen. Es schien undenkbar, dass der Hausherr den Fremden für eine so lange Zeit in seinem Schlafzimmer verbarg. Möglicherweise war der Mann aus guten Gründen ein oder zwei Tage dort untergetaucht. Doch wer auch immer er war, inzwischen musste er sich längst aus dem Staub gemacht haben. Sie riskierte also nicht, ihn anzutreffen, wenn sie das Schlafzimmer des Majors durchsuchte. Alle anderen Überlegungen schienen abwegig. Trotzdem holte Amy tief Luft, bevor sie die Türklinke hinunterdrückte und das Zimmer betrat.
Sie war allein. Sie seufzte vernehmlich auf und lehnte sich erleichtert von innen gegen die Tür, wobei sie sich vorsichtig umblickte. Der Paravent war zusammengefaltet, und es war kein Badezuber zu sehen. Kein Kaminfeuer erhellte den Raum, aber die Vorhänge waren zurückgezogen und gaben den Blick auf den See und den kleinen Tempel am anderen Ufer frei. Ein goldenes, leicht rötliches Abendlicht drang durch die Fenster. Es war ein normales und vollkommen leeres Schlafzimmer.
Dennoch blieb sie zögernd an der Tür stehen und lauschte angestrengt. Sie konnte einen Teil des Ankleidezimmers sehen, aber ohne dass sie es betrat und nachsah, besaß sie keine Gewissheit, allein zu sein. Was war, wenn der Unbekannte sich darin aufhielt?
Verhalte dich ganz ungezwungen. Geh einfach in das Ankleidezimmer, als ob du jedes Recht dazu hättest. Du wurdest geschickt, um ein … ein Taschentuch zu holen. Falls er sich tatsächlich darin befindet, weiß er nicht hundertprozentig, dass du schwindelst. Dann kannst du einfach ein Taschentuch nehmen und wieder verschwinden, bevor er irgendetwas dagegen unternehmen kann.
Sie drückte den Rücken durch und ging ziemlich langsam in das Ankleidezimmer. Sie schaute sich ruhig um, als ob sie nach dem Ort suchen würde, wo die Taschentücher aufbewahrt wurden. Dort war die Kommode! Und die große Kleidermangel, das schmale Bett des Dieners und all die anderen Utensilien, die in den Ankleideraum eines Gentlemans gehörten. Außer ihr befand sich niemand im Zimmer. Der Fremde war verschwunden.
„Gott sei Dank!“, flüsterte sie, weil sie ihrer Erleichterung Luft machen musste.
Es war nur ein kurzer Augenblick der Schwäche. Sie hatte keine Zeit, um an den rätselhaften Mann zu denken. Sie musste mit dem Suchen beginnen und zwar rasch. Eilig kehrte sie ins Schlafzimmer zurück und schaute sich nach einem geeigneten Platz um, wo sie damit am sinnvollsten beginnen konnte. Ja, natürlich! Der kleine Schreibtisch am Fenster. Es war ohnehin ein eigenartiges Möbel für das Schlafzimmer eines Herrn. Immerhin erledigte der Major alle
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