Historical Saison Band 16 (German Edition)
konnte nicht anders als ihre Bewegungen, die wie aus einem Walzer-Lehrbuch waren, mit Lilyas natürlicher Anmut zu vergleichen. Mit Lilya zu tanzen, war ganz anders gewesen. Er begann die beiden Frauen auch in anderer Hinsicht zu vergleichen.
Er kannte beide Frauen nur flüchtig. Aber das Gespräch mit Lilya am gestrigen Abend war so viel interessanter gewesen. Sie hatte ihn angesehen, statt über seine Schulter zu schauen. Ihre Unterhaltung war geistvoll und unterhaltsam gewesen. Und dann war da noch etwas Unbestimmbares, ein prickelndes Gefühl, das er ständig mit Lilya in Verbindung brachte …
„Die Dekorationen sind göttlich“, sagte Lady Eleanor. „Rosafarbene Rosen sind meine Lieblingsblumen.“
„Diese Farbe steht Ihnen auch besonders gut.“ Beldon konzentrierte sich wieder auf Eleanor. Er musste sich einfach nur mehr anstrengen, sie zu mögen, statt daran zu denken, wie es war, mit Lilya zu tanzen. Sie hatte sich gut in seinen Armen angefühlt, selbstbewusst und doch anschmiegsam. Aber da war noch etwas gewesen: Sie hatten gemeinsam gelacht . Wie gern würde er diesen Moment noch einmal erleben, ihr glockenhelles Gelächter hören und den freudigen Glanz in ihren wunderschönen dunklen Augen genießen! Aber das war ganz und gar nicht der richtige Wunsch für jemanden, der einer anderen Frau einen Antrag machen wollte.
Der Walzer schien eine Ewigkeit zu dauern. Lady Eleanor sprach von Dekorationen und Kleidern, von der neuen Kutsche ihres Vaters und dem Hut ihrer Mutter. Irgendwo lachte Lilya aus tiefer Kehle. Ihre Stimme klang so weich und süß wie Honig. Er schaute sich suchend um und entdeckte ihr rosafarbenes Kleid und ihr hochgestecktes dunkles Haar. Mr Agyros hatte offenbar eine witzige Bemerkung gemacht.
Nach dem Walzer würde er seine Rolle als Aufpasser wahrnehmen und sich um Lilya kümmern. Doch als die letzten Noten verklangen waren, sah er sich vergeblich nach ihr um. Sie und Mr Agyros hatten den Ballsaal verlassen.
Es hatte keinen Grund gegeben, die freundliche Bitte nach einem kleinen Spaziergang auszuschlagen. Die Gärten waren voller Menschen, die zwischen den Tänzen draußen Abkühlung suchten, und Christoph Agyros würde sie bestimmt nicht in unbeleuchtete Ecken führen. Draußen war ein privates Gespräch eher möglich als in einem überfüllten Ballsaal. Außerdem wollte sie nicht weiter mit ansehen, wie Beldon Stratten mit Lady Eleanor über die Tanzfläche schwebte …
„Die frische Luft tut wirklich gut!“, sagte Lilya und atmete tief ein. Gemächlich schritt sie mit Agyros durch den Garten. „London ist wirklich faszinierend, diese vielen eleganten Menschen, die prachtvollen Bälle … Genießen Sie das nicht auch?“, fragte er.
„Ich lebe lieber zurückgezogen auf dem Land“, antwortete sie.
Er nickte verständnisvoll. „Meine Familie besaß vor den Unruhen ein Landhaus auf Chios. Ich war vierzehn, als es begann.“ Er schwieg und seufzte, bevor er fortfuhr: „Wir haben das Landhaus natürlich verloren und vieles andere dazu.“
Lilya seufzte wehmütig. Alle Phanarioten wussten, was auf Chios geschehen war: Nach den Aufständen in Naoussa hatten die Ottomanen dort ganze Familien umgebracht, Kinder zu Waisen gemacht und sämtliche Reichtümer geraubt. Chios’ Wohlstand war dahin.
„Das tut mir leid“, sagte sie leise. Sie wusste, was er durchmachen musste. Sie hatte ihre Familie in Naoussa verloren und er die seine in Chios. Nie würde sie vergessen, wie sie mit Konstantin auf dem Arm, der damals noch ein Baby gewesen war, zusehen musste, wie ihre Tante und Alexei niedergemetzelt wurden. Sie hatte befürchtet, ihr würde dasselbe zustoßen, doch Valerian hatte wie ein Berserker unter den Angreifern gewütet.
Christoph legte seine Hand auf die ihre und lächelte ihr zu. „Danke. Nur wer die Unruhen selbst erlebt hat, kann nachfühlen, was sie für uns bedeutet haben. Wir sind zwar nun überall in Europa verstreut, dennoch haben wir überlebt. Und das ist die Hauptsache, oder?“
Mein Leben steht gerade erneut auf dem Spiel, dachte Lilya, als sie in die dunklen Augen von Christoph Agyros schaute. Vielleicht hatte sie einen Fehler gemacht. Sie hatte ihm bei ihrer gestrigen Begegnung im Park nicht erzählt, woher sie stammte. Doch nun ging er von gewissen Annahmen aus, und sie hatte ihn nicht korrigiert. Vielleicht hätte sie das besser tun sollen. Aber jede Korrektur war gleichzeitig eine Lüge. Wenn er die Wahrheit zufällig herausfand, würde er
Weitere Kostenlose Bücher