Historical Weihnachtsband 1990
Geländer, und kleine Kränze aus Mistel- und Stechpalmenzweigen wurden überall verteilt. Der berauschende Duft des Waldes wetteiferte mit dem der Süßigkeiten.
Die Kinder wurden immer aufgeregter. Da ihnen ausdrücklich verboten war, nach Geschenken zu suchen, verbrachten sie Stunden mit Vermutungen darüber, was sie bekommen könnten. Robin, Sophias Ältester, wünschte sich ein Modellschiff, und Amy sehnte sich nach einer Puppe, während die jüngeren noch nicht so recht begriffen, was es mit Weihnachten auf sich hatte. Sie saßen mit weit aufgerissenen Augen da und lauschten, während Mary ihnen aus dem Buch „Der Weihnachtsabend" vorlas. Dann hörten sie Robin und Amy zu, wenn sie die Gewohnheiten des Weihnachtsmanns erörterten.
In jenen Tagen war Mary froh, wenn sie Zeit fand, etwas zu lesen, so beschäftigt war sie Tag und Nacht mit den nie enden wollenden Aufgaben. Sie kümmerte sich um die Zusammenstellung und Verteilung der Mahlzeiten, sowie um die Vorbereitungen für das Weihnachtsfest. Dann mußte sie ihre eigenen Geschenke sortieren, einpacken und aufbewahren. Schließlich wollte Grandfather verhätschelt werden, der den ganzen Rummel als große Last empfand. Allein schon der tägliche Speiseplan war eine Herkulesarbeit, da sie herausfinden mußte, wer dasein würde und wer bei Freunden aß.
Zu allem Überfluß brach sich Sophias Kindermädchen auch noch einen Knöchel auf dem Eis, wodurch sie sich von einer Hilfe in einen weiteren Kranken verwandelte, zu dem Tabletts gebracht und dem Medikamente verabreicht werden mußten. Ihre Pflichten wurden zwischen Betty und Florences Kindermädchen aufgeteilt, die beide die zusätzliche Bürde ablehnten. Darauf reagierte Sophia damit, daß es ihr ja wirklich schrecklich leid täte, aber sie hätte nicht die Absicht, die Feiertage damit zu verbringen, Krankenschwester zu spielen. So blieb es Mary überlassen, ihre Schwester zu beruhigen und das überarbeitete Personal zu besänftigen. Das tat sie, wie immer, anmutig und erfolgreich.
Und doch war sie nur halb bei der Sache. Alle ihre Sinne, die sie nicht für die Arbeit brauchte, waren unerschütterlich auf Jack gerichtet. Selbst mit größter Anstrengung konnte sie die Gedanken nicht von ihm abwenden.
Die Gedanken, die sich Mary machte, waren tiefgehend und beunruhigend, so tief wie die Gefühle, die er in ihr hervorgerufen hatte. Falls sie noch Zweifel gehegt hatte, Jacks Kuß hatte sie zerstreut wie der Wind die Spreu. Sie liebte Jack Gates, aller Vernunft zum Trotz. Ihm einfach nur nahe zu sein, ihn zu sehen, seine Stimme zu hören, machte Mary so glücklich, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Sooft sie sich auch sagen mochte, daß es klüger wäre, sich von ihm fernzuhalten und ihre Empfindungen zu leugnen oder zu verdrängen, bis sie für immer verschwanden, zog es sie doch immer wieder zu ihm hin. Jeder Augenblick in seiner Gegenwart war ein kostbares Geschenk, das sie bewahrte und hütete wie Juwelen in einem Schatzkästlein. Und die Momente im Old House waren ihr die wertvollsten von allen.
Mary hatte das Gefühl, Jack zu kennen, wie ihn wahrscheinlich noch kein anderer gekannt hatte. Nach dem, was sie von ihm und der menschlichen Natur im allgemeinen wußte, bezweifelte sie, daß er seine Lebensgeschichte häufig erzählte.
Tatsächlich glaubte sie sogar, daß er sie noch keinem jemals erzählt hatte, Das Vertrauen, das er ihr damit erwiesen hatte, erfüllte sie mit Dankbarkeit. Außerdem konnte sie ihn seit jenem Zeitpunkt nicht mehr anschauen, ohne vor ihrem inneren Auge den verängstigten, wütenden Jungen zu sehen, der er einmal gewesen war.
Sowohl um seiner Selbstsicherheit als auch seiner Verletzlichkeit willen liebte sie ihn. Und weil er sie verstand liebte sie ihn noch mehr. Er hatte wie kein anderer begriffen, was das Old House ihr bedeutete. Kein anderer hatte sich überhaupt je die Mühe gemacht, zu versuchen, sie zu verstehen. In jenen stillen, ungeheizten Räumen hatten sie aus dem Herzen gesprochen, und die Erinnerung daran würde für den Rest ihrer Tage in ihr lebendig bleiben.
„Mary", hatte er geflüstert, und als sie aufgeblickt hatte, hatte er sie geküßt.
Ja, sie liebte Jack Gates, wie sie noch keinen Menschen geliebt hatte. Dennoch machte sie sich keine Illusionen. Sie hatte etwas Wunderbares erlebt, aber mehr als ein Moment war es nicht gewesen. Jack mochte ihr Dinge erzählt haben, von denen er noch nie gesprochen hatte, doch da Mary seinen Stolz kannte,
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