Historical Weihnachtsband 1990
hingegangen ist?" fragte sie.
„Zum Einkaufen, glaube ich", antwortete Mary.
„Nun, wohin sie auch gegangen ist, sie hat jedenfalls ihr Kindermädchen mitgenommen. Ich bin bei den Pickerings eingeladen. Sie haben darauf bestanden, und jetzt ist niemand da, der auf die Kinder aufpaßt. Robin und Amy können natürlich auf sich selbst aufpassen, aber die Kleinen . . . Jedenfalls habe ich Betty gefragt, aber sie hat gesagt, du hättest ihr aufgetragen, daß sie das Silber putzen soll. Und gleichzeitig Silber polieren und Kinder beaufsichtigen kann sie nicht. Dabei sehe ich darin gar kein Problem, weil die Kinder sowieso ein Mittagsschläfchen brauchen könnten. Wenn Betty sie nur dazu bringt, zu schlafen, kann sie praktisch den ganzen Nachmittag lang tun, wozu sie Lust hat."
„Also gut", meinte Mary, „richte Betty aus, daß ich gesagt habe, sie soll tun, was du wünschst. Obwohl das vermutlich damit endet", fügte sie hinzu, nachdem Sophia das Zimmer wieder verlassen hatte, „daß ich das Silber selbst putzen darf. Ach ja . . ." Sie seufzte und wandte sich erneut den Karten auf dem Schreibtisch zu.
Ehe sie jedoch die Feder in die Tinte tauchen konnte, wurde die Tür schon wieder geöffnet.
Ach du meine Güte, wenn das so weitergeht, werde ich nie fertig, dachte Mary und seufzte noch einmal. Dennoch gelang es ihr, zu lächeln, als sie den Kopf hob.
Ihr Herz tat einen Sprung, sobald sie sah, wer es war.
„Miss Hillyer, verzeihen Sie mir. Ich habe geglaubt, der Raum sei leer", sagte Jack Gates.
„Mr. Gates! Kommen Sie herein!"
An diesem Tag trug er eine rehbraune Hose, eine passende braune Weste und einen schokoladenfarbenen Gehrock. Das waren genau die Farben, die Mary für ihn ausgesucht hätte,
wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen hätte. Eine Woche Vergnügungen im Freien hatten seine städtische Blässe durch eine gesunde Gesichtsfarbe ersetzt, die durch das tiefe Braun des Rocks noch betont wurde, während die elegante helle Hose seine schlanke Gestalt betonte. Da Mary plötzlich bewußt wurde, daß sie ihn anstarrte, wandte sie den Blick ab und richtete ihn auf die fröhlich bunten Karten auf dem Tisch.
Jack schaute ebenfalls auf die Karten. „Ich habe Sie gestört."
„Nein, ich versuche nur, fertig zu werden." Sie sah die Papiere, die er unter dem Arm trug. „Sie müssen arbeiten?"
Bedauernd lächelte er. „Ich fürchte, ich habe es schon zu lange liegenlassen. Letzte Woche hätte es schon fertig sein sollen, doch jedesmal, wenn ich daran dachte, habe ich eine Ausrede gefunden, weil ich etwas anderes lieber gemacht habe."
Sofort verteidigte Mary ihn. „Kein Wunder", stimmte sie zu. „Nach der ganzen Arbeit, die Sie im vergangenen Jahr gehabt haben. Gray erzählte, daß er oft wochenlang nicht mal einen halben Tag für sich selbst hat."
„Ja, wir arbeiten viel", bestätigte Jack und lächelte über ihren entrüsteten Tonfall.
Wie ähnlich es ihr sah, die Menschen, die sie liebte, zu verteidigen. Gray zu verteidigen, verbesserte er sich.
„Aber der Lohn ist süß", sagte Jack und ging um den Schreibtisch, um die Karten darauf näher zu betrachten. Sie waren alle sinnreich ohne sentimental zu sein. Die zarten Zeichnungen und Farben paßten so gut zu Mary. Besonders eine zog seinen Blick auf sich, mit einem Kind darauf, das in einem verschneiten Hof die Vögel fütterte. „Ich wette, das sind Sie gewesen", bemerkte er, als er die Karte in die Hand nahm. „Sie haben bestimmt Ihr Frühstück für die Vögel aufgehoben."
„Das stimmt tatsächlich", gab Mary zu, und dieses scheue Lächeln, das so flüchtig wie eine Sternschnuppe war und ebenso reizend, huschte über ihr Gesicht. „Ich habe mir gedacht, wie gern Tante Alice sie gemocht hätte."
„Wirklich?" fragte er und gab Mary die Karte zurück. Marys Hand zitterte, als sie die Weihnachtskarte entgegennahm.
Jack stand dicht neben ihr. Er hatte die Hüften an den Schreibtisch gelehnt und schaute zum Fenster hin. Mary war sich seiner Gegenwart mit allen Sinnen gleichzeitig bewußt. Wie immer, wenn er in ihrer Nähe war, schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Sie entdeckte eine winzige Narbe auf seiner Hand. Wie gern hätte sie die berührt und die Lippen darauf gelegt. Doch wenn sie Jack auch nicht anfassen durfte, war es doch genug, ihn neben sich zu haben.
Die Kinder mußten irgendwo draußen spielen. Jack hörte ihre Stimmen, auch wenn sie in dem Teil des schneebedeckten Gartens, den man durch das Fenster überblickte,
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