Historical Weihnachtsband 1990
nicht zu sehen waren. Bei Tagesanbruch war das Wetter zwar freundlich gewesen, doch seitdem waren Wolken aufgekommen, und die Sonne schien blaß zwischen ihnen hindurch.
Irgendwo rief eine Frau nach den Kindern, und aus der Küche hörte man das Klappern von Besteck, aber diese Geräusche konnten die Stille im Raum nicht stören. Sie umfing Mary mit einer Aura, die sie immer umfangen würde. Selbst im hektischen Boston würde sie eine Insel der Ruhe schaffen.
Jack ließ den Blick vom Fenster zu Marys gesenktem Kopf schweifen. Plötzlich überfiel ihn Angst vor dem Leben, in das er zurückkehren mußte. Er sehnte sich danach, zu bleiben. Bei Mary war er sicher und geborgen.
„Sie werden mir fehlen, wenn ich wieder fort bin." Das zu sagen, hatte er nicht vorgehabt, und sein Herz tat einen Sprung, als sie rasch aufschaute.
Sie werden mir fehlen . . .
Seine Worte weckten Hoffnungen in ihr. Dennoch unterdrückte sie die Hoffnung so rasch, wie sie aufgetaucht war. Seine Worte haben nicht die Bedeutung, die ich aus ihnen höre, mahnte Mary sich streng. Das war nur seine Art zu flirten, sich die Zeit mit ihr zu vertreiben.
„Die Hälfte aller jungen Frauen von Northampton werden Sie ebenfalls vermissen", meinte sie daher und schaute auf die Karte, die sie immer noch in der Hand hielt.
„Und werden Sie eine davon sein?" fragte er. Seine Stimme war sanft wie ein Streicheln, genauso zart und unwiderstehlich,
wie Mary seine Berührung in Erinnerung hatte.
Sie konnte den Blick von seinen kräftigen, schlanken Händen nicht abwenden. Ihre Sehnsucht, sie zu spüren, war unendlich groß. Natürlich werde ich dabeisein! wollte sie rufen. Sehnsüchtig werde ich mich bis an das Ende meines Lebens an dich erinnern. Selbstverständlich werde ich an dich denken. Wie kannst du daran zweifeln?
„Natürlich", brachte sie mit einer Ruhe hervor, die sie nicht wirklich empfand. „Ohne Sie und Gray wird mir das Haus leer vorkommen."
Sie und Gray ... Er mußte den Atem angehalten haben, denn nun stieß er ihn aus.
Vor Enttäuschung schien sich ihm der Magen zusammenzuziehen. Dann hatte sich ihr Bild von ihm also trotz allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, nicht gewandelt. Sie sah ihn als den Freund ihres Bruders. Er war nicht mehr als ein Feriengast.
Weshalb sollte ihn das stören? Froh sollte er sein, wenn sie sich nicht mehr von ihm erhoffte. Und daß sie den einen Kuß nicht überwertete und glaubte, in Jack einen Verehrer gefunden zu haben. Glücklich sollte er sein, daß er nicht gefangen war, statt das Gefühl zu haben, etwas Wertvolles eingebüßt zu haben, statt zu glauben, er hätte seine einzige Chance auf echtes Glück verloren.
Was geschah nur mit ihm? Wenn er es nur verstehen würde. Was machte sie so anziehend, so begehrenswert, daß neben ihr das Bild jeder anderen Frau verblaßte?
Auf der Gesellschaft am Vorabend hatten sich die Minuten dahingezogen, und seine Tanzpartnerinnen waren ihm plump wie Kühe vorgekommen. Sie waren über das Parkett in ihren zu auffälligen Kleidern gehüpft und hatten zu aufgesetzt gelächelt.
Er hatte sich gezwungen, zu reden und zu lachen, doch hatte er in der Menge nach braunen Augen gesucht, die so klar und sanft wie ihre waren, und nach einer Stimme gelauscht, die tief und melodisch war wie ihre. Was ließ ihn solche Dinge empfinden? Es war, als wäre er immer noch vom Zauber das Old House umfangen.
Tatsächlich verließ ihn die Erinnerung an die Stunde nie, die sie in seinen friedlichen Räumen verbracht hatten, ebensowenig wie die Sehnsucht, die er an jenem Tag empfunden hatte.
Was in Mary wohl vorgeht? fragte er sich und schaute sie an. Als er sie geküßt hatte, war er erstaunt gewesen über die Bereitschaft, mit der sie seinen Kuß erwidert hatte. In ihrer gegenwärtigen Haltung entdeckte er jedoch keinerlei Leidenschaft.
Wahrscheinlich bereute sie jene Umarmung und fände ihre Erwähnung kränkend und peinlich. Vermutlich war sie zu dem Schluß gekommen, daß er ständig Frauen küßte, womit sie ihn richtig einschätzte. Und dennoch war dies nicht wichtig für das, was zwischen ihnen geschehen war. Jack wünschte, er hätte es so erklären können, daß sie begriff und nicht länger eine schlechte Meinung von ihm hatte. Schließlich wunderte er sich noch, weshalb es ihm so überaus wichtig sein sollte, was sie von ihm hielt.
Ja, warum nur? fragte er sich und richtete sich auf, als hätte er damit eine solche Schwäche verjagen können. Weshalb sollte es
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