Historical Weihnachtsband 1990
sprach, Isabelle zog zu Weihnachten in den Krieg, als wollte sie anstelle der Soldaten, die sich gerade im Feldlager eine wohlverdiente Ruhepause gönnten, den Kampf aufnehmen.
Von irgendwoher hörte er Singen. Corporal Haines spielte „O heilige Nacht" am Klavier, und Joe Simon, aus Baltimore in Maryland, sang mit seiner herrlichen Tenorstimme dazu. Das Lied klang wehmütig. Dann fiel auch eine zweite Stimme ein, die von Isabelle Hinton, hell und klar wie die einer Nachtigall, süß und lauter.
Sie hat den Männern verziehen, dachte er. Sie hat ihnen verziehen, Yankees zu sein.
Sie hat ihnen den Krieg verziehen. Nur ihm konnte sie nicht vergeben, jedenfalls nicht, wenn es um Weihnachten ging.
Das Lied verklang.
Plötzlich schloß er die Augen, und es waren Bilder der Vergangenheit und nicht die Gegenwart, die er nun sah, nicht die Reinheit des Schnees, das sanfte Grau des Tages. Ich kann die Vergangenheit nicht vergessen, dachte er, ebensowenig wie sie.
Er spannte sich, die Muskeln seiner Arme und Schultern zogen sich zusammen, und sein Atem ging zu schnell.
Sie war da. Er wußte, daß sie da war. Sergeant Hawkins hatte ihm gemeldet, daß sie eine Unterredung wünschte, und nun wußte er einfach, daß sie an der Tür stand. Er konnte ihre Jasminseife riechen, ihre Anwesenheit spüren. Wenn er sich umdrehte, würde sie im Türrahmen stehen und darauf warten, daß er sie herein bat. Sie würde stolz und abweisend sein wie damals, als sie sich zum erstenmal begegnet waren, und sein Herz würde ihm ebenso wie damals bis zum Hals hinauf schlagen. Sie war eine außerordentliche Frau.
Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Es war fast vorüber, der Krieg war fast vorüber.
Er wußte es, die hageren, hungernden
Soldaten des Südens wußten es, sie wußte es, würde es jedoch niemals zugeben.
Aylwin gab sich einen Ruck und setzte eine gebieterische Miene auf. Er drehte sich um, und da war sie. Und wie vermutet, war sie reisefertig. Ihr prachtvolles burgunderfarbenes Kleid hatte bessere Tage gesehen. Ihr schwerer schwarzer Umhang wirkte abgenutzt, und unter ihren geflickten Unterröcken trug sie, wie er wohl wußte, geflickte, gestopfte Strümpfe, denn außer der „Miete" für das Haus, die sie jeden Monat hinter einem Ziegelstein des Kamins versteckte, hatte sie nie etwas von ihm nehmen wollen.
Einst hatte sie das Geld für ihre beiden Brüder zurückgelegt, doch einer von ihnen lag jetzt in dem Familiengrab unter dem Schnee, und so legte sie es nun für Lieutenant James L. Hinton, Artillerie der Konföderierten Staaten, Nord virginia-Armee, beiseite — in der Hoffnung, daß er eines Tages zurückkehren würde. Sie nahm das Geld, weil die Armee der Vereinigten Staaten ihr Haus beschlagnahmt hatte. Weil sie fest entschlossen war, ihr Haus nicht aufzugeben, hatte sie keine Wahl gehabt, als es ihnen zur Benutzung zu überlassen. Die Hinton-Plantage lag dicht bei Washington, D.C., und wenn sich die Armee auch gelegentlich gezwungen gesehen hatte, das Grundstück zu räumen, wenn General Lees Streitkräfte zu nahe kamen, so waren sie doch immer wiedergekehrt.
Isabelle wußte, daß er immer wiederkehren würde.
★
Travis Aylwin sprach nicht gleich. Er hatte nicht die Absicht, es ihr leichtzumachen, nicht in dieser Nacht, nicht bei diesem Sturm der Verzweiflung, der in seinem Herzen wütete. Er kreuzte die Arme über der Brust, nahm lässig auf der Fensterbank Platz, sah höflich zu ihr hin und wartete. Sein Herzschlag beschleunigte sich, wie immer, wenn sie in der Nähe war. Das war von Anfang an so gewesen und erst recht, seitdem er sie so gut kennengelernt hatte.
Sie war ziemlich blaß und wirkte dadurch nur noch schöner.
Sie hätte eine Art Winterkönigin darstellen können, so wie sie da stand — groß, schlank, eingehüllt in ihr Gewand, mit den faszinierenden, in der ovalen Perfektion ihres Gesichts enorm groß wirkenden graugrünen Augen. Verführerisch überschatteten dunkle Wimpern den makellosen, alabasterfarbenen Teint, leuchteten die Lippen rot wie Wein. Unter der Kapuze ihres Umhangs lugten Locken goldblonden Haars hervor, die nur einen spärlichen Eindruck von der darunter verborgenen Fülle ihrer strahlenden Haarpracht vermittelten. Während er sie so betrachtete, flammte in ihm der Wunsch auf, sie in die Arme zu nehmen und so lange zu schütteln, bis sie um Gnade bettelte, bis sie sich ihm ergab.
Doch dazu war er nicht in der Lage. Ja, früher hatte er sie im Ärger angefaßt, hatte sie
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