Historical Weihnachtsband 1990
sie bis ins Grab hinein abstreiten würde, falls er dies zuließ.
„Isabelle!" wiederholte er, ohne seinen Blick von ihr abzuwenden, ihre ebenmäßigen Züge regelrecht mit den Augen verschlingend, während seine rauhen Finger ihr Gesicht dort berührten, wo Wange und Kinn in sanftem Bogen ineinander übergingen. Noch einmal flüsterte er ihren Namen, und kurz bevor er sie küßte, spürte er das aufgeregte Klopfen ihres Herzens. Er drückte seine Lippen auf ihre, und als er mit seiner Zunge tief in ihren Mund eintauchte, wurden Erinnerungen in ihnen beiden wach, und das Kaminfeuer hinter ihm schien plötzlich hoch aufzulodern. Seine Lippen liebkosten und verzehrten die ihren. Flammen schienen gegen seine Brust, seinen Unterleib, seine Lenden zu schlagen, bis er es nicht mehr ertragen zu können glaubte. Deutlich verspürte er den provozierenden Druck ihrer Brüste gegen sein Kavalleriehemd, während er ihr süßes Aroma einsog, den Duft, auf den er nur allzu bald würde verzichten müssen.
Falls Isabelle beabsichtigt hatte, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen, so hatte er dafür gesorgt, daß sie diesen Gedanken
schnell wieder fallenließ. Einmal in der Gewalt seiner Arme, konnte sie sich ihm nicht mehr entziehen. Der Kuß beschwor Erinnerungen herauf, Erinnerungen an blinde, verzweifelte Leidenschaft und drängendes Sehnen, Erinnerungen an Zärtlichkeit, an geflüsterte Worte, an kostbare, goldene, zeitlose Augenblicke, wenn sich die Liebe trotzig über die Realität des Krieges hinwegsetzte.
Der Kuß war hungrig und süß, und in jenen gestohlenen Sekunden war er für ihn genau so, wie Weihnachten sein sollte. Bei aller Leidenschaft erweckte er tief in seinem Herzen Erinnerungen an Zeiten, da sie miteinander gelacht hatten. An Zeiten, da er sie gegenüber der Welt in Schutz genommen hatte. Er hatte stürmisch begonnen und wisperte doch von Frieden und gegenseitiger Hingabe. Er enthielt das Versprechen langer gemeinsamer Jahre, von Abenden vor dem offenen Kaminfeuer mit den Kindern auf dem Schoß und den süßen Klängen der Weihnachtslieder in den Ohren. So gehörte es sich für einen Weihnachtskuß . . .
„Nein!" rief Isabelle verhalten und machte sich von ihm los. Ihre kleinen behandschuhten Hände lagen an seiner Brust, und dieselben Tränen, die vorher ihren Augen einen traurigen Glanz verliehen hatten, benetzten nun ihre Wangen.
„Travis, nein! Ich muß los. Verstehst du denn nicht? Ich muß Weihnachten bei meinen eigenen Leuten verbringen und nicht am Busen des Feindes."
„O Gott, Isabelle! Will dir das nicht in den Kopf? Du bist doch zu Hause. Dies ist dein Heim . . ."
„Nicht, solange du darin bist, Travis!" fiel sie ihm ins Wort und wich zurück. „Travis, bitte!" Die Tränen ließen ihre Stimme stocken. „Bitte, laß mich gehen!"
Er fühlte sich wie versteinert, aber er zwang sich, ruhig zu atmen, und ohne sie aus den Augen zu lassen, bückte er sich mühsam nach dem Dokument. Er reichte es ihr, und ihre Finger berührten sich, als sie danach griff.
„Geh nicht, Isabelle", sagte er schlicht.
„Ich muß aber."
Er schüttelte den Kopf. „Der Krieg ist fast vorüber."
„Ich käme mir wie eine Verräterin vor."
„Deine Liebe zu mir bedeutet doch nicht, daß du deinen Leuten den Rücken kehrst.
Der Krieg geht zu Ende. Das Land muß anfangen, seine Wunden zu heilen."
„Der Krieg ist noch nicht vorbei."
„Isabelle! Lees Soldaten hängen die Fetzen vom Leibe. Sie haben keine Lebensmittel, keine Stiefel. Verstehst du denn nicht? Ja, sie haben gekämpft und sind gefallen, und sie haben die Union zuschanden gemacht, aber wir werden jeden Tag mehr, und wir haben Repetiergewehre, während die Hälfte der Jungs in Grau sich mit einschüssigen Musketen behelfen muß. Ich habe diesen Krieg nicht angefangen, und du genausowenig. Isabelle . .."
„Travis, nicht! Ich will das nicht hören."
„Bleib, Isabelle."
„Ich kann nicht."
„Du mußt!"
„Warum?" fragte sie verzweifelt.
„Weil ich dich liebe."
Isabelle erstarrte, als sie diese einfachen Worte hörte, und ihre Wangen wurden noch blasser. Doch in wild entschlossener Ablehnung schüttelte sie den Kopf. „Wir sind Feinde, Travis."
„Wir sind ein Liebespaar, Isabelle, und keine Lügen, kein Pathos, keine Selbstverleugnung wird daran etwas ändern."
„Du bist ein Yankee!" stieß sie hervor. „Und kein Gentleman, wenn du solche Dinge laut denkst."
Ein gequältes Lächeln umspielte seinen Mund. „Ich hab's versucht, aber ein
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