Historical Weihnachtsband 1991
Wort.
Draußen vor der Stadt, wo die verschneiten Felder sich erstreckten, genossen noch mehr Menschen den strahlenden Tag an der frischen Luft. Schlittenschellen bimmelten melodisch, unter den Hufen der Pferde stob der Pulverschnee und glitzerte.
„Ist Ihnen warm genug?" erkundigte sich Matthew fürsorglich.
„Ja, ja, danke." Vermutlich hätte sie die pelzverbrämte Decke nicht gebraucht. Die Nähe des Mannes an ihrer Seite genügte, um ihr heiße Schauer durch den Körper zu jagen. Der Schlitten war eng, und sie fühlte den Druck von Matthews Schenkel.
Heimlich beobachtete sie die Männerhände, die so sicher und ruhig die Zügel hielten. Natürlich trug Matthew Lederhandschuhe, und sie umspannten die Finger gleich einer zweiten Haut. Der Blick auf die Landschaft streifte auch das Profil, die breiten Schultern Thorntons.
Jetzt wies er auf eine Straße, die hinter einer Baumgruppe eine Kehre machte. Mit klopfenden Pulsen überlegte Angelica, ob sie nicht doch einen Fehler begangen habe, diese Einladung zur Ausfahrt anzunehmen.
„Erinnern Sie sich noch, wohin es dort geht?"
„Natürlich", gab sie unwillig zurück. „Schließlich habe ich hier mein ganzes Leben verbracht." Sie konnte es nicht fassen, daß Matthew so unbarmherzig fragen konnte, ob sie wisse, daß diese Chaussee auf jenen Hügel führte, auf dem Matthew sie damals um ihre Hand gebeten hatte.
„Dann wollen wir doch einmal sehen, ob man von dort oben immer noch diesen schönen Ausblick über die ganze Stadt hat." Er lenkte das Gespann herum und ließ die Pferde den Hügelweg hinauftraben.
Ihr war, als lägen Bergeslasten auf ihrem Herzen. Sie genoß Matthews Nähe, den Klang der Stimme, betrachtete das geliebte Gesicht. Gleichzeitig aber wünschte sie, er wäre so weit entfernt,
daß selbst die Erinnerung ihn nicht mehr fände.
Es dauerte nicht lange, so hatten sie die Kuppe des Hügels erreicht. Wie immer im Winter, sahen sie unten London ausgebreitet, denn die kahlen Bäume behinderten die Sicht nicht.
Matthew zügelte die Pferde und wandte sich zu Angelica herum. „Erinnern Sie sich, wie das bei Nacht aussieht? Von hier kann man die Lichter sehen, die Straßenlaternen, die erhellten Fenster, sogar die Bootslampen auf der Themse, bei klarer Luft."
„Ich weiß es."
In jener Nacht, da er sie gebeten hatte, seine Frau zu werden, hatte er auf die Lichter gezeigt und gemeint, sie wirkten wie Edelsteine, die er ihr zu Füßen legen wolle. Daraufhatte er in die Tasche gelangt und einen Ring, besetzt mit einer Perle im Diamantenkranz, herausgezogen, um ihn ihr an den Finger zu stekken. Wie hätte sie das jemals vergessen sollen?
„In zwei Tagen wären wir schon seit fünf Jahren verheiratet", sagte er leise, als dächte er bloß laut. „Wir hätten eine Familie wie Phoebe und Geoffrey, ein Haus und eine gemeinsame Vergangenheit hinter uns, eine gemeinsame Zukunft vor uns."
„Jeder Mensch hat eine Vergangenheit und eine Zukunft", gab sie scharf zurück. „So ist es nun einmal im Leben." Dabei kostete es sie viel Kraft, ihre widerstreitenden Gefühle zu beherrschen.
„Der eine hat eine verheißungsvollere Zukunft, der andere eine trostlosere. Ich wünsche mir eine Familie und ein Heim. Sie nicht?"
„Ich habe ein Heim und auch eine Familie."
„Sind Sie noch in Kontakt mit der Familie Ihres Mannes?"
„Nein, schon seit Jahren nicht mehr. Wir haben einander nie besonders nahegestanden, aber es gab auch keine ausgesprochene Feindschaft zwischen uns.
Manchmal treffen wir uns in der Kirche, doch wir besuchen einander nie."
„Ich habe meinem Verwalter eine Depesche nach York geschickt, daß ich ein Haus hier gefunden habe und gleich mit Anfang des neuen Jahres übersiedeln werde."
Jetzt wandte er ihr den Blick voll zu. „Heute morgen habe ich den Kaufvertrag unterzeichnet."
„Ich freue mich für Sie. Aber könnten wir zurückfahren? Ich beginne zu frieren." Sie brachte es nicht fertig, sich seine Zukunftspläne anzuhören, nicht hier an derselben Stelle, die für sie beide eine solche Bedeutung hatte. Und doch trieb eine sonderbare Regung sie dazu, nach dieser Frau zu fragen, die nun in Matthews Leben jene Rolle spielte, die er ihr einmal zugedacht hatte.
Vielleicht würde der übergroße Schmerz dann endlich einen Grad erreichen, der es ihr möglich machen würde, Matthew Thornton zu vergessen? Und trotz allem durfte es nicht soweit kommen, daß sie diese Frage stellte, nicht, solange sie allein miteinander waren und er
Weitere Kostenlose Bücher