Historical Weihnachtsband 1992
alltäglichen Ereignissen und Erinnerungen, die sie einst mit ihm geteilt hatte. Nichts anderes stand im zweiten Schreiben, dem dritten und vierten. Erst im fünften spürte er zwischen den Zeilen die Enttäuschung und den Schmerz, daß er nicht geantwortet hatte. Im letzten, etwa ein Jahr alten Brief berichtete Blair vom Tod der Mutter und bat um Trost. Natürlich hatte Cameron auch darauf nicht geantwortet, da ihm keines der Schreiben ausgehändigt worden war. Jetzt stimmte es ihn traurig, daß der Vater alle Bande mit Glenmuir zerschnitten hatte.
Mit einem unterdrückten Fluch stand Cameron auf, goß sich Cognac ein und nahm auch die Karaffe mit in das Schlafzimmer. Wie hatte der Vater sich die Entscheidung anmaßen können, ihn und Blair Duncan zu trennen? Nun war es sicher zu spät, die Beziehung wiederaufzunehmen. Selbst wenn Blair dem toten Earl of Lindsay verzeihen würde, daß er die Briefe unterschlagen und selbstherrlich über das Leben anderer Menschen entschieden hatte, war sie doch von Cameron selbst zutiefst gekränkt worden, um ihm vergeben zu können. Sonst wäre sie gleich gekommen, um die Spenden für die Pächter abzuholen.
Bald ließ er das Glas unbeachtet auf dem Nachttisch stehen und trank aus der Flasche. Er wollte vergessen, sich nicht an Blair Duncan und den traurigen Ausdruck ihrer blauen Augen erinnern lassen.
*
Es war noch ziemlich finster, als Blair entschlossen Duncan House verließ, in der Hand eine kleine Laterne. Die Luft war feucht und schwer. Die Leute im Dorf schliefen noch fest. Sie umging Glenmuir und strebte den alten Besitzungen der Connerys zu. Angeregt durch die Einsamkeit der im Rauhreif schimmernden Felder wurden Erinnerungen an den uralten Sonnenkult der Menschen dieses Landes, das die meiste Zeit düster und grau verhangen war. Blair hatte sich vorgenommen, bei Sonnenaufgang in Lindsay Hall einzutreffen. Waren auch keine heidnischen Rituale zu erwarten, so würde sie zumindest die Genugtuung haben, Cameron zu äußerst früher Stunde zu stören. Nicht einmal die Dienstboten waren aufgestanden, wie sie feststellen mußte. In ihr wärmstes Plaid gehüllt, schlug sie zum vierten Male an die schwere, geschnitzte Eichentür. Endlich wurde geöffnet, und der sichtlich hastig in die Kleider geschlüpfte Butler starrte die Besucherin fassungslos an.
„Miss Duncan? Seine Lordschaft ist noch nicht wach, und auch das Personal schläft noch", sagte er unüberhörbar tadelnd. „Es ist kaum erst sechs Uhr!"
„Ich habe keine Zeit für Faulpelze. Mylord hatte mich gebeten, so schnell wie möglich herzukommen, und nun bin ich da", erwiderte Miss Duncan und machte Anstalten, die Halle zu betreten. „Wollen Sie mich nicht ins Haus bitten, ehe Sie mich Lord Lindsay melden? Ich werde gewiß nicht das Tafelsilber stehlen!"
„Natürlich nicht, Miss Duncan. Soll ich Ihnen Tee machen lassen? Seine Lordschaft liebt es ganz und gar nicht, wenn man ihn so früh weckt."
„Ich kann auf seine Gewohnheiten leider keine Rücksicht nehmen! Gehen Sie endlich und sagen Sie ihm, daß ich gekommen bin! Oder erwarten Sie etwa, daß ich es tue?"
„Nein, selbstverständlich nicht, Miss Duncan! Das wäre Mylord nicht recht", entgegnete Williamson entsetzt. „Wenn Sie in seinem Arbeitszimmer waren wollen?
Hier entlang bitte!"
Cameron Montgomery, Earl of Lindsay, war einen Moment später ebenso entgeistert wie sein Butler. „Miss Duncan ist hier? Jetzt?"
„Ja, Sir. Sie ist in Ihrem Arbeitszimmer."
„Unfaßbar!" Warum in aller Welt war sie derart früh gekommen? Natürlich! Er hatte sie gebeten, so bald wie möglich zu erscheinen, und sie hatte es wörtlich genommen. Er lachte schallend auf, und der plötzliche Heiterkeitsausbruch verwirrte Williamson noch mehr als der unziemlich frühe Besuch. Er wich zurück und überlegte, ob er nicht Hilfe holen solle.
„Schon gut, Williamson, bring mir meine Sachen, aber schnell! Ich kann eine Dame nicht warten lassen", befahl der Earl und grinste von einem Öhr zum anderen. So hatte er
Blair Duncan in Erinnerung, als Kobold, unverschämt und eigensinnig, der jemanden zum Wahnsinn treiben und schon im nächsten Augenblick den Eindruck eines Engels erwecken konnte. Bei aller Freude, daß sie nun doch zu ihm gekommen war, fragte sich Cameron, welche Art Blair ihn wohl erwartete. Blair schaute sich in dem Raum mit der ausgeprägt männlichen Note um, und das Bündel Papiere auf dem Schreibtisch entging ihr nicht. Neugierig trat sie näher und erkannte
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