Historical Weihnachtsband 1992
fertigbrachte, hier auf einen Menschen zu schießen?
Er war sich nicht länger sicher. Nur eines wußte er. Er war es müde, zu kämpfen.
Ganz gleich wie gerecht die Sache sein mochte. Er verabscheute diesen Krieg, in dem Bruder gegen Bruder und Vater gegen Sohn standen. Manchmal wünschte er, sein Onkel hätte ihm niemals die Wahrheit über seine Herkunft erzählt.
Er war noch zu jung gewesen, um sich zu erinnern. Seine Mutter hatte ihn damals mitgenommen, als sie ihren Mann in Nordost-Carolina verließ, um wieder bei ihrer eigenen Familie in Boston zu leben. Seine Kindheitserinnerungen setzten erst ein bei einem dunklen, höhlenartigen Haus, in dem Spielen und Lachen verboten war, weil immer irgendein Verwandter im Sterben lag.
Die Mallorys waren eine kranke aussterbende Sippe gewesen. Nach einer endlosen Serie von Begräbnissen, das seiner Mutter inbegriffen, wurde Ralph in die Obhut eines alten Onkels gegeben. Dieser Mann hatte ihm eher aus Versehen den Namen seines Vaters und seinen Geburtsortes verraten. Seit er mit der Unionsarmee hier im Süden war, lebte Ralph nun in der ständigen Furcht, plötzlich seinem nie gekannten Vater gegenüberzustehen.
Er empfand keine besondere Sympathie für den Mann, der die schwache Gesundheit seiner Frau gefährdet hatte, indem er sich weigerte, die Farm aufzugeben, und statt dessen die Frau gehen ließ. Und sein einziger Sohn war ihm offenbar auch gleichgültig gewesen.
„Lieutenant, dort. Licht", sagte sein Corporal leise. „Geht an und aus. Soll ich mich anschleichen und die Sache überprüfen?"
„Sieht aus wie eine Farm. Cecil, nehmen Sie vier Männer, für jede Seite einen und je zwei für vorn und hinten. Burden, Sie und Smith übernehmen die Nebengebäude.
Ruhig jetzt. Wir
wollen keinen Ärger, es sei denn, sie schießen zuerst."
„So nah am Fluß! Es könnte ein Versteck dieser Sumpfratten sein, Sir", murmelte einer der Männer.
Doch Mallory winkte seine Leute bereits in Position. Geräuschlos bewegte er sich auf die Vorderseite des kleinen Holzhauses zu. Sein Blick fiel auf den schiefhängenden Strohkranz an der Eingangstür und auf das winterkahle Gestrüpp neben der Veranda. Gott sei Dank, kein Hund.
Er glitt langsam neben der Tür die Außenwand entlang. Am Fenster drückte er das Gesicht gegen die Scheibe und bewegte sich auf den schmalen Schlitz zu, durch den das Licht nach draußen fiel. Irgend jemand war da drinnen und hatte die Vorhänge bewegt. Vielleicht um ein Signal zu geben. Sie befanden sich nicht weit von der Stelle entfernt, wo Wilds Leute in der vergangenen Nacht das Partisanennest ausgeräumt hatten.
„Lieutenant", zischte es laut hinter ihm. Gleichzeitig hörte er, wie ein Gewehr entsichert wurde. Ralph hob unwillig den Arm. „Zurück, Männer. Ich versuche allein, ob die Tür offen ist. Gebt mir zehn Minuten, und kommt dann nach, immer zwei und zwei. Wenn sie versuchen sollten, durch die Hintertür zu entkommen, setzt ihnen nach. Aber ich will keine Schießerei, solange sie nicht selbst damit anfangen. Ist das klar?"
Nichts war klar. Er konnte nur das gegenseitige Abschlachten nicht mehr ertragen.
„Lassen Sie mich hineingehen", bettelte ein junger Freiwilliger. Als Neuling war er ganz versessen auf einen Kampf.
„Geh aus der Schußlinie. Das hier ist kein Picknick", befahl er.
Der Junge verschwand in der Dunkelheit, und Ralph, der noch immer geduckt gegen die Hauswand gepreßt dastand, spähte wieder durch das Fenster. Es war besser, die Lage nochmals zu überprüfen. Nur hineingehen mußte er. Das war seine Pflicht.
Er drückte sein Gesicht gegen die Scheibe und kniff ein Auge zu, um besser sehen zu können. Langsam gewöhnte er
sich an das Licht. Plötzlich weitete sich der Spalt zwischen den Vorhängen. Ralph erstarrte. Ein großes Auge, genauso braun wie sein eigenes, sah ihn an und hielt seinem Blick stand. Er fluchte leise. Was zum Teufel sollte er jetzt bloß tun?
„Lieutenant", flüsterte wieder jemand im Dunkeln hinter ihm.
Ralph machte eine heftige Armbewegung und bat sich Ruhe aus. Es mußte sich da drinnen um ein Kind handeln. Kein normaler Erwachsener würde sich so ungeniert benehmen — auf den Knien vor dem Fensterbrett herumkriechen und nach draußen äugen . . . Wirklich nicht? Und was tat er? Er war noch nie in eine solche Situation gekommen.
„Wollen Sie, daß wir sie von hinten überrumpeln, Sir?"
„Dvorski, Sie halten den Mund! Da drinnen scheint nur ein Kind zu sein. Und das will ich nicht
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