Historical Weihnachtsband 1992
wirklich keinen Verdacht?"
Liebling? Sein Kopf tat nicht nur höllisch weh, sondern es drehte sich auch alles vor ihm. Er war also ihr Liebling. Nur von welchen anderen Männern redete sie? Ach, und dann der Tisch . . . „Wo ist das Kind?" fiel ihm plötzlich ein. An das Kind erinnerte er sich. Die Kleine kam ihm irgendwie vertraut vor. Er konnte sie allerdings nicht einordnen.
„Becky? Ist sie nicht mächtig gewachsen? Und hübsch ist sie auch geworden, nicht wahr?" Ihre Hände berührten ihn wieder. Sie schien nicht genug davon zu bekommen, ihn anzufassen. Naja, unangenehm war es ihm nicht gerade.
Jetzt ließ sie ihn allein, kam jedoch gleich mit dem kleinen Mädchen zurück. Becky?
Ja, so hieß sie. Und er nannte sich . . . Robert. Nur wer zum Kuckuck war die Frau?
„Ist mein Tisch schon fertig, Daddy?"
Daddy? Er kam sich vor, als würde er sich auf sehr dünnem Eis bewegen. Aber er mußte es wohl akzeptieren. Robert, das war sein Name. Becky hieß das Kind. Und er war ihr . . . Daddy.
„Ich hab den Mann gefragt, ob er ihn hier baut. Dann können Emma und ich helfen.
Aber er sagt, das geht nicht, weil er auch ein Lager bauen muß. Macht er Emmas Tisch zuerst? Können Emma und ich das Lager sehen, wenn es fertig ist?"
Die Frau hieß also Emma. Und offenbar wußte das Kind mehr als seine Mutter.
Wenn er die weißen Stellen in seinem Gedächtnis auffüllen wollte, mußte er sich an die Kleine halten.
„Becky, warum kletterst du nicht zu mir aufs Bett und erzählst mir etwas, während deine Mutter . . . ah", stöhnte er.
„ . . . dir einen kalten Lappen für den Kopf und etwas heiße Suppe für den Magen holt", beendete diese den Satz.
„Genau, tu das", entgegnete er. Die Frau sah ihn etwas befremdet an. „Bitte", fügte er höflich hinzu.
„Nun, Kind", begann er, nachdem sich die Schlafzimmertür hinter der Frau geschlossen hatte. „Ich nehme an, du erzählst mir jetzt alles über den Tisch und über das Lager."
Becky kicherte, und er zuckte bei dem Geräusch zusammen. „Du weißt doch, Daddy.
Emmas Teetisch. Mein Weihnachtsgeschenk. Ich dachte erst, du bist Sandy Claus, als du durchs Fenster geguckt hast. Ich hab' nämlich auf ihn gewartet."
Das sagte ihm überhaupt nichts. „Und das Lager?" wollte er wissen.
Die Kleine rutschte mit ihrem winzigen Hinterteil auf dem Federbett hin und her. Sie hob die schmächtigen Schultern und seufzte. „Aber Daddy, du hast ihnen doch gesagt, daß sie im Wald ein Lager bauen sollen. Und Emma und ich kriegen einen Tisch."
„Und habe ich auch gesagt, warum ich hiergeblieben bin?"
Becky neigte den Kopf zur Seite. „Erinnerst du dich denn an überhaupt nichts? Du hast doch zu ihnen gesagt, daß du mich nicht allein lassen willst. Aber ich bleibe oft allein, wenn Mama Onkel Jimmy besuchen muß. Du brauchst keine Angst zu haben.
Ich langeweile mich nie."
Der Mann, der Robert genannt wurde, hörte gar nicht mehr zu. Er fragte sich, ob er tatsächlich die Erinnerung verloren hatte. Ja, es schien so. Sein Gedächtnis begann und endete mit dem Lächeln eines Kindes und dem vagen Gedanken an einen Tisch.
Dann war da noch ein krachendes Geräusch, als wenn jemandem der Schädel eingeschlagen wird. Dieser jemand war offenbar er selbst.
Nachdem Saras Sorge um ihren Bruder sich als unbegründet erwiesen hatte, arbeitete sie mit ihrer ruhigen und überlegten Art weiter. Sie kochte eine dicke Suppe aus den wenigen Vorräten, die sie hatte, und dachte nach. Die Uniform,... sie mußte sie loswerden, und zwar schnell. Wenn irgendjemand sie hier finden würde, gab es großen Ärger.
Am besten verbrannte sie das ganze Zeug Stück für Stück, damit nicht zu viel Rauch entstand. Was die Stiefel anging, die waren eigentlich zu schade zum Wegwerfen. Es gingen hier schon genug Leute selbst im Winter barfuß. Und wer würde es den Stiefeln ansehen, ob sie einem Yankee oder einem Konföderierten gehört hatten?
Sie zweigte einen der Melasse-Kekse aus ihrem Vorrat ab, den sie angelegt hatte, um Becky zu Weihnachten eine Freude zu machen, und deckte das Zinntablett mit ihrem Sonntagsgeschirr. Dann legte sie noch einen Stechpalmenzweig als Dekoration dazu.
Viellleicht könnte sie die Uniform auch auftrennen und mit Walnußbrühe umfärben, statt sie zu verbrennen? Guter Wollstoff war heutzutage rar.
Nein, sie verbrannte besser alles. Roberts und nichts zuletzt auch Jimmys Leben hing davon ab. Lieber würde sie ohne Kleider gehen, als ein Mitglied ihrer Familie in Gefahr
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