Historical Weihnachtsband 1993
Weihnachtsbescherung", murmelte Seth. „Und trotzdem bin ich froh, dich lebend wiederzusehen."
„Eine schöne Bescherung kann man das wohl nennen. Und du hättest auch tatsächlich geschossen?"
"Ja", gab Seth freimütig zurück, „auch wenn ich keineswegs davon begeistert gewesen wäre."
„Welch ein Trost", versetzte Rafe trocken.
„Das ist nur so, weil ich nicht mehr genug Opium für zwei habe." Seth grinste ein wenig. „Und du bist immer schon ein unerträglicher Patient gewesen. Weißt du noch, wie wir als Kinder die Masern hatten?"
„Du hattest mich angesteckt", beklagte sich Rafe. „Aber es tut gut zu wissen, daß ich dich richtig eingeschätzt habe. Es wäre mir ziemlich unangenehm, wenn ich meinen Revolver wegen einer leeren Drohung hergegeben hätte."
„Du bist immer noch ein schlechter Verlierer."
Eine eigenartige Stimmung lag in der Luft. Das fast scherzhafte Geplänkel, das den Brüdern als Knaben und junge Männer so selbstverständlich gewesen war, diente jetzt nur dazu, tiefere Empfindungen zu bemänteln, die es zu beherrschen galt, die nicht ans Licht dringen sollten. Es stand viel zu viel auf dem Spiel. Und dennoch überfielen die Erinnerungen jeden dieser drei Menschen, machte sie irgendwie hilflos. Seth saß ein Kloß in der Kehle bei dem Gedanken an die enge Vertrautheit, die ihn und seinen Bruder, die beiden jüngsten Kinder der großen und temperamentgeladenen Familie, einst verbunden hatte. Deshalb ging er nun zu Rafe hi;n und legte ihm die Hand auf die Schulter, bloß, um ihn zu berühren, ließ sie dort verweilen. Wenn er ihn schon nicht umarmen sollte, dann wollte er wenigstens nicht gleich wieder den Kontakt verlieren nach diesen vier Jahren, in denen keiner gewußt hatte, ob der andere überhaupt noch am Leben war. Seth las die gleiche schmerzliche Betroffenheit in Rafes Augen und murmelte: „Es tut mir so leid."
Rafe schluckte, während sich sein Herz in der Brust zusammenkrampfte, und nickte.
Damit gab er dem Bruder zu verstehen, daß sie einer Meinung waren.
Seth blickte zu Blythe hin und fragte sich, wie der kleine Kellerraum soviel Seelennot fassen konnte. Blythe stand ihr tiefes Leid ins Gesicht geschrieben, und Rafe war so verschlossen, wie er es, soweit Seth zurückdenken konnte, nur zu sein pflegte, wenn die Qual zu groß geworden war, um sie zeigen zu können. Einmal war das so gewesen, erinnerte er sich, damals als ihr Vater starb.
Jetzt aber brauchten die beiden Liebenden einfach Zeit, sein Bruder und auch Blythe. Vielleicht konnte Seth dazu beitragen, daß sie einen Weg zueinander fanden und die offenen Wunden heilen ließen, die noch so deutlich frisch waren. War das nicht der Sinn der Weihnacht? Er beugte sich vor und prüfte die Fesseln an Rafes Handgelenken, schätzte die Länge der Enden ab, die von den Knoten niederhingen.
Dann schnitt er den Strick mit einem Skalpell aus der Arzttasche ab und band mit dem Rest auch Rafes Füße zusammen. Diese notwendige Vorsichtsmaßnahme war Seth freilich so zuwider, daß er ein grimmiges Gesicht machte und es vermied, seinen Bruder anzuschauen, der nun von neuem eine gleichgültige Miene zur Schau trug. Ein Blick durch den Keller belehrte Seth, daß hier nichts zu finden war, mit dem sich Rafe hätte seiner Fesseln entledigen können, außer dem Inhalt der Arzttasche.
Er nahm sie an sich.
„Ich glaube, ich werde mich draußen ein wenig umsehen", bemerkte er.
„Ich komme mit." Blythe empfand plötzlich Angst, mit Rafe und den eigenen stürmisch bewegten Gefühlen allein zu sein.
„Einer muß bei dem General bleiben", mahnte Seth behutsam. "Außerdem bin ich der Meinung, daß du und Rafe einander einiges zu sagen habt."
„Es . . ., es gibt nichts, das zu sagen wäre ", widersprach Blythe verzagt, „nicht mehr."
„O doch, sonst sähest du nicht so verdammt unglücklich aus." Er wandte sich an Rafe. „Und du kannst manchmal ein schrecklicher Narr sein." Mit dieser brüderlichen Feststellung entfernte sich Seth und schob den Trog nicht ganz in Position, um im Notfalle eilends wieder untertauchen zu können. Draußen hüllte er sich fester in den grauen Mantel, um sich vor der Kälte zu schützen, und ging zu der alten Eiche, die nur wenige Schritte entfernt stand. Dort schwang er sich auf einen der niederhängenden starken Äste und lehnte sich an den dicken Stamm. Von hier aus konnte man in der Stille der Nacht jeden Hufschlag vernehmen, wahrscheinlich lange, bevor Reiter auftauchten. Ein Gefühl
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