Historical Weihnachtsband 1993
schaute er den Bruder auf eine ganz bestimmte entwaffnende Art an, die Seth nur allzu vertraut war.
Früher hatte das meist irgend eine nachfolgende Schelmerei bedeutet. „Würdest du mich wirklich anschießen, Seth?"
„Nicht gern, Rafe, aber doch, ich müßte es tun."
„Ich wollte, ich könnte es bezweifeln."
„Tu das nicht und erspare uns beiden eine Menge Schwierigkeiten."
Eine Weile schwieg Rafe und überlegte Seths Worte, die aufrichtig gemeint waren.
Er wußte, daß die Lage sehr ernst war. Seth pflegte nicht zu bluffen. Rafe tat es des öfteren, Seth dagegen niemals. Dazu war er viel zu ernsthaft veranlagt, und das hatte sich seit der Kindheit nicht geändert.
„Der Krieg könnte schneller beendet werden, wenn ich den General gefangennähme", sagte Rafe schließlich. „Das bedeutete Menschenleben, die sich auf beiden Seiten damit retten ließen." Wenn überhaupt ein Argument bei Seth verfangen würde, dann dieses letztere.
„Und was geschähe dann mit ihm in einem Lazarett oder einem Gefängnis der Union?" fragte Seth, ohne sich damit aufzuhalten, die Gegenwart des Mannes im Keller zur Debatte zu stellen.
„Es liegt in unserem eigenen Interesse, daß er am Leben bleibt, und man würde ihn mit ausgesuchter Sorgfalt behandeln. Darauf gebe ich dir mein Wort."
„Er ist bereits in guten Händen ", wehrte Seth nicht eben bescheiden ab. „Ich vertraue lieber meinen ärztlichen Künsten als denen der Yankees. Außerdem würdet ihr keine Silbe aus ihm herausbringen. Und was sollte dann aus ihm werden? Ihr würdet ihn in eines jener Rattenlöcher stecken wie andere Gefangene auch."
„Wenn ich nicht ins Camp zurückkehre, werden meine Leute nach mir suchen."
„Ich bezweifle, daß sie uns jemals im Obstkeller finden würden, Bruder", versetzte Seth gleichmütig. „Du bist der einzige, der davon Kenntnis hat. Dein Pech, daß du es warst, der vorbeikam."
Seths Tonfall konnte Rafe nicht darüber hinwegtäuschen, daß sein Bruder auf der Hut war. Dem aufmerksamen Blick Seths entging nichts, der Körper war angespannt, der Finger lag ruhig am Abzug.
„In nächster Zukunft wird auch dir kein besseres Los beschieden sein. Die Schlinge zieht sich zu, Seth, der Süden wird nicht mehr lange überleben."
„Ich weiß das", sagte Seth leise. „Ich kann nicht mehr tun, als noch so viele Leben zu retten, wie mir nur möglich ist."
„Ich will nur Massey", wiederholte Rafe beharrlich.
Seth schüttelte langsam den Kopf.
„Du kommst nicht lebend mit ihm zu euren Leuten zurück."
„Mag sein. Jetzt aber bin ich es, der die Pistole auf dich gerichtet hält, und das macht deine Lage nicht eben besser."
Einen Atemzug lang überlegte Rafe, ob er sich auf den Bruder stürzen sollte. Doch es gab nicht den geringsten Zweifel, daß Seth abdrücken würde, um den Mann zu schützen, der sich in seiner ärztlichen Obhut befand. Und Rafe behagte der Gedanke ganz und gar nicht, den Rest des Krieges verwundet in einem Lazarett zu verbringen.
Während er noch unentschlossen war, kam Blythe zurück, einen Strick in der Hand und den Ausdruck tiefen Kummers im Gesicht.
„Halte deine Hände nach vorn, Rafe!" befahl Seth ruhig.
Rafe zögerte.
„Stell mich nicht auf die Probe, Bruder! Ich möchte nur ungern Weihnachten damit verbringen, auch dich zusammenzuflicken."
Widerwillig gehorchte Rafe, und Seth nickte Blythe zu, dem Bruder die Handgelenke zu fesseln. Sie zauderte und schaute von dem einen Manne zu dem anderen. Die eherne Entschlossenheit in den Augen beider verriet, daß etwas Entsetzliches geschehen mochte, wenn sie den Befehl nicht ausführte. So wand sie langsam den Strick um Rafes Hände und zog ihn zusammen, doch dann hielt sie inne. Unzählige Male hatte sie in den Stallungen Stricke festgebunden, aber dort hatte es sich um Pferde gehandelt. Jetzt freilich zitterten ihr die Finger und versagten ihr den Dienst, so daß sie keinen Knoten zustande brachte. Und dann machte Blythe noch den Fehler, zu Rafe aufzuschauen, mitten hinein in die Augen, die sie so sehr geliebt hatte und immer noch über alles liebte.
Dunkel glitzerten sie jetzt, unergründlich und gefährlich. Zwar herrschte fühlbare Spannung zwischen den beiden Brüdern, doch
keine wirkliche Feindseligkeit, und allein dafür war Blythe unendlich dankbar. Aber keiner von ihnen würde auch nur einen Schritt von seinem Wege abweichen. Es handelte sich um eine äußerste Machtprobe menschlicher Willenskraft. Seth mit der Pistole in der Rechten war
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