Historical Weihnachtsband 1993
unendlicher Einsamkeit überfiel Seth. Er hob den Kopf und suchte am Himmel den Polarstern.
Vor nahezu zwei Jahrtausenden hatte die Geburt eines Kindes der Welt den Frieden verkündet. Ob er jemals wieder hier einkehrte? Und würde es vor allem wieder Frieden geben zwischen den beiden Menschen, die Seth am meisten liebte?
Zwischen Rafe und Blythe breitete sich tiefes Schweigen aus. Sie konnten die Blicke nicht voneinander lösen, diese fragenden, argwöhnischen, zurückhaltenden Blicke.
Endlich schaute Blythe auf Rafes gebundene Hände, und er tat ein Gleiches. Dabei wartete er darauf, daß sie zu sprechen begänne. Mühsam streckte er die Beine aus.
Die Fessel behinderte ihn dabei. Dennoch machte er auf Blythe den Eindruck einer entspannten, trägen Wildkatze, dennoch einer überaus gefährlichen.
„Du bist wohl nicht gewillt, mich loszubinden?" sagte er schließlich.
Wordos schüttelte Blythe den Kopf und wünschte sich weit weg. Oder vielleicht doch nicht?
„Triffst du Seth oft?" Eigentlich hatte er das nicht fragen wollen, aber nun war es heraus. Wie er diese Eifersucht verabscheute, die immer noch an ihm nagte!
„Früher häufiger", antwortete Blythe gedehnt und konnte das Flimmern in seinen Augen nicht richtig deuten. Jetzt wäre es lebensgefährlich für ihn." Sie stockte, sprach aber dann weiter, wohl nur, um das lastende Schweigen zu durchbrechen.
„Er hat den Plan mit dem versetzten Brunnentrog entworfen. Ohne den versteckten Keller hätten wir längst verhungern müssen. Erst beschlagnahmten die Konföderierten alle Vorräte, dann raubten uns die Yankees aus, darauf wieder die Konföderierten."
Rafe sah sich um, musterte die Öffnung oben. „Sehr geschickt gemacht. Aber Seth war immer schon so klug."
„Für uns alle ist er ein guter Freund gewesen. Ich wüßte nicht, was wir ohne ihn getan hätten", sagte sie zögernd und war nur teilweise erleichtert, daß sich das Gespräch nicht um sie beide drehte. Denn in Rafes Gesichtsausdruck stand etwas geschrieben, etwas Wundes, Verletztes.
„Es muß sehr schwer für dich gewesen sein, nicht wahr?" Seine Stimme klang sanfter, und etwas von der früheren Zärtlichkeit schwang darin mit.
„Nicht schwerer als für viele andere auch, vielleicht sogar etwas leichter. Ich habe immerhin noch ein Dach über dem Kopf, etwas, wenn auch wenig, zu essen und die Farm. Das können nicht alle von sich behaupten." Blythe sprach sachlich, ohne jeden Unterton von Selbstmitleid oder Vorwurf. Rafe hatte bloß getan, was sein Gewissen von ihm verlangte, und so war es auch mit Seth. Daß sie eine verschiedene Auffassung von dieser Verpflichtung hatten, machte keinen von beiden schlechter.
Im flackernden Kerzenlicht sah sie die Schatten, die über Rafes Züge huschten, und fragte sich insgeheim, welche Greuel er mitangesehen, vielleicht sogar mitverschuldet haben mochte. Dann streckte sie die Hand aus und legte sie auf den Ärmel seines Offiziersmantels. „Wo bist du denn überall gewesen?"
„Das zählt nicht, denn es bedeutete immer die gleiche Hölle", sagte er. „Shiloh, Vicksburg, Chickamauga, Adanta, der Marsch quer durch Georgia. Nein, der war am schlimmsten. Wir hatten strikten Befehl, alles niederzubrennen, Wohnhäuser, Scheunen, Stallungen, ganze Städte." Er bewahrte mit Mühe die Fassung, und es war ihm anzusehen, welchen Alptraum Rafe noch einmal in Gedanken durchlebte.
Blythe berührte seine Hände, als könnte sie damit die Spannung mindern, die sich so deutlich in seiner Haltung verriet.
Er schaute auf die Fesseln und lächelte schmerzlich. „Ich habe alles versucht, Blythe, Virginia zu meiden und dergleichen Aufträge. Weiß Gott, wie sehr ich es versucht habe, auch wenn ich mich noch so sehr nach dir sehnte, mit dir sein und dir helfen wollte, auch wenn . . ."
„Auch wenn du glaubtest, ich hätte deinen Bruder geheiratet?" Nun zeigte sich Schmerz in ihrem Gesicht, ließ ihre Stimme schwanken.
„Selbst dann, vielleicht sogar vor allem dann. Es hat wehgetan, verdammt weh, aber ich liebe euch beide, dich und Seth, und daran hätte nichts etwas ändern können."
„Trotzdem warst du so abweisend und kalt, als du heute nacht hierher kamst."
„Ich glaubte, mit einem solchen distanzierten Verhalten imstande zu sein, dich nicht in die Arme zu reißen, wie es mich drängte,
dich nicht zu halten, wie ich es mir in zahllosen Nächten erträumt hatte." Rafe schwieg eine Weile und legte seine gefesselten Hände auf die ihren, als wolle er sie nie
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