Hitlers Berlin
8.November 1923 ließ er seine Anhänger eine Versammlung Kahrs im Bürgerbräukeller »übernehmen«, schoss in die Decke und rief die »deutsche Revolution« aus. Unmissverständlich deklamierte er unter dem Jubel seiner Anhänger und
Klares Ziel: Plakat der Putschisten vom 9.November 1923
dem starren Entsetzen der Münchner Reaktionäre: »Die Aufgabe der provisorischen Deutschen National-Regierung ist, mit der ganzen Kraft dieses Landes [nämlich Bayerns] und der herbeigezogenen Kraft aller deutschen Gaue den Vormarsch anzutreten in das Sündenbabel Berlin, das deutsche Volk zu retten.«
Metaphorisch gemeint war das nicht. Hitler nahm Kahr das Versprechen ab, ihn zu unterstützen, und versuchte, die Macht in München zu übernehmen. Doch der Putsch gewann nicht die nötige Dynamik; die meisten nicht-nationalsozialistischen Gruppen und Honoratioren verhielten sich abwartend. Kahr fühlte sich nicht an sein Ehrenwort gebunden, das ihm unter Waffengewalt abgezwungen worden war, und organisierte die Gegenwehr. Am folgenden Morgen rief Hitler seine Anhänger auf, in Richtung Feldherrenhalle zu marschieren; ein so verzweifelter wie aussichtsloser Versuch, das Scheitern seines Putsches abzuwenden. Schließlich eröffnete die Polizei das Feuer und tötete 15 Aufrührer, vier Polizisten starben durch Gegenfeuer. Erich von Ludendorff, ehemaliger Generalquartiermeister des Kaiserlichen Heeres, der an der Spitze neben Hitler marschiert war, wurde festgenommen; der NSDAP-Chef, der sich schon zum Regierungschef erklärt hatte, floh zunächst und versteckte sich bei Hanfstaengl, wo er bald darauf verhaftet wurde.
Die Ereignisse des 8. und 9. November stützen die Deutung, Hitler habe ganz konkret gen Reichshauptstadt marschieren wollen. In seinem Verfahren wegen Hochverrats dagegen erklärte Hitler als Hauptangeklagter am 13. März 1924: »Wir dachten uns unter dem ›Marsch nach Berlin‹ nicht einen Angriff oder so etwas, sondern nur sittliche Erneuerung.« Natürlich war diese Einlassung taktisch bedingt. Aber selbstverständlich war Hitler auch klug genug zu wissen, dass seine NSDAP nicht von Bayern nach Berlin marschieren und in der Reichshauptstadt die Macht übernehmen konnte – nicht einmal mit voller Unterstützung der Münchner Truppen und Polizei.
Der böse Satz des Chefs der Heeresleitung Hans von Seeckt beim Kapp-Putsch, »Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr«, galt im Herbst
1923 nicht mehr; jedenfalls nicht für einen Staatsstreich unter Führung Hitlers. Vielleicht hat er sich unter dem »Marsch auf Berlin« doch etwas Ähnliches vorgestellt oder wenigstens zusammenfantasiert wie Mussolinis Coup von 1922.
Andererseits schrieb der gescheiterte Putschist am 5.Mai 1924 aus der Haft in einem der »längsten Briefe seines Lebens« an Siegfried Wagner, den Sohn des Komponisten: »Als ich Anfang Oktober letzten Jahres das Glück hatte, zum ersten Male in meinem Leben Wahnfried [das Wagner’sche Anwesen in Bayreuth] betreten zu dürfen, durfte ich auch mit bestem Grunde hoffen, schon in kürzester Zeit wieder, oder besser noch einmal nach Bayreuth kommen zu können, liegt es doch auf der Marschlinie nach Berlin.« Hatte er also doch damit gerechnet, Anfang November im Triumphzug Richtung Nordosten zu marschieren? Hier zeigt sich einmal mehr, wie irrational und zufällig Hitlers Umgang mit der Realität war.Womöglich konnte der grenzenlos egozentrische, von seiner eigenen »Berufung« inzwischen überzeugte NSDAP-Chef im Herbst 1923 nicht mehr zwischen einem bloß metaphorischen und einem wirklichen »Marsch auf Berlin« differenzieren: Die Hauptstadt war für Hitler stets sowohl Ziel im konkreten, also geografischen, als auch im übertragenen, symbolischen Sinne. 22
1924 – 1933
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EROBERUNG
Schwieriger Beginn
»Wehret den Anfängen!« gilt seit Ovid als bewährter Grundsatz, Schlimmeres zu verhüten. Der preußische Innenminister Carl Severing war, nach Volksschule und Schlosserlehre, kein humanistisch gebildeter Mann. Doch er wusste den Feinden der Demokratie entgegenzutreten: Am 15. November 1922 verbot der SPD-Politiker die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei und alle ihre Zweigvereine in ganz Preußen – und kam damit der geplanten Gründung einer NSDAP-Ortsgruppe in Berlin vier Tage zuvor. Allerdings nur mit mäßigem Erfolg: In der Gaststätte Zum Reichskanzler in der Kreuzberger Yorckstraße 90 versammelten sich am 19. November trotzdem 194 Männer, um eine Großdeutsche
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