Hitzetod
sie unter das kochend heiße Wasser trat. Mit geschlossenen Augen ließ sie die Wasserstrahlen auf ihre müden Muskeln eintrommeln. Sie war seit sechs Uhr auf den Beinen, nicht nur wegen des hellen Sonnenlichts, das durch ihr Schlafzimmerfenster hereinströmte, sondern auch weil sie wie immer eine ruhelose Nacht verbracht hatte. Nächtliche Schrecken, nannte sie das, ein Begriff, über den sie immer lachen musste. Nach den Schrecken, die sie tagtäglich zu sehen bekam, sollten Träume ihr eigentlich nichts mehr anhaben können. Sie taten es aber doch. Seit jeher. Schon als kleines Kind war sie früh aufgewacht, und wenn sie dann wieder eingeschlafen war, hatten die Träume eingesetzt. Träume, die verspannte Muskeln und eine tiefe Traurigkeit in ihr hinterließen, die sie erst nach einer Weile wieder abschütteln konnte. Das heiße Wasser tat gut. Sie rieb sich das Peeling über den Körper, als könnte es die hartnäckigen Gefühle aus ihren Alpträumen abwaschen, und sah zu, wie das schaumige Wasser eine Lache um ihre Füße bildete, bevor es in einem Wirbel lautlos im Abfluss verschwand. Nach ein paar Minuten legte sie den Schwamm beiseite und stand einfach unter dem Wasser. Ließ es sich durchs Haar rinnen und auf die glühende Haut spritzen. So verharrte sie mindestens fünf Minuten, tief atmend, die Augen geschlossen und mit einem Herzschlag, der allmählich wieder zu seiner normalen Frequenz zurückfand.
Delaney schreckte hoch, als das Schrillen des Telefons wie ein Zahnarztbohrer auf höchster Stufe in sein Bewusstsein drang. Er hob ab, brummte ein paar Worte und legte auf. Ein Blick auf seine Nachttischuhr ließ ihn leise fluchen, dann stand er schwankend auf und taumelte ins Bad hinüber, die Augen zusammengekniffen gegen das grelle Sonnenlicht, das ihn durch die Jalousien hindurch blendete.
Er zog einen elektrischen Rasierer über die widerspenstigen Ebenen und Kanten seines Gesichts und schaute sich im Spiegel an. Seine Augen wirkten immer noch, als hätten sie zu viele Dinge gesehen, die sie nicht mehr sehen wollten, und das kalte Wasser, mit dem er sie bespritzt hatte, konnte die Härte auch nicht wegwaschen. Seine Wangenmuskeln waren schlaff, und seine verquollenen Augen zeugten ebenso von Alkohol wie von Schlafmangel. Er spritzte sich noch mehr Wasser in die blutunterlaufenen Augen und rieb sich mit einem Handtuch grob trocken. Dann zog er sein Jackett an und gähnte. Ein neuer Tag.
Draußen brannte die Sonne auf die rissigen Bürgersteige der Stadt herunter. Überall regte sich Leben. Menschen schoben und drängelten, Geschäftigkeit allerorten. Wie Käfer stürzten sie sich in die U-Bahn-Stationen, die sie vollständig verschluckten, um sie in der ganzen Metropole wieder auszuspucken. Die Sauerstoffpartikel im Blut der Großstadt, die sie pulsieren, die sie atmen ließen.
Doch auch der Tod hatte in London die Regelmäßigkeit eines Herzschlags. Tod als Folge von Altersschwäche, Krebs, Herzinfarkt beim Squash oder wildem Sex, Lungenentzündung oder Erfrieren, Autounfall, Verzweiflung und Einsamkeit und Mord. Die Zahl der Leichen nahm täglich zu, und sie wurden Kate Walker und ihren Kollegen zur Untersuchung, zur Analyse gebracht.
An diesem sonnigen Mittwochmorgen hatte sie fünf kalte Körper auf der Warteliste, darunter Jackie Malone und ein junges Mädchen, das sich an die Spitze der Warteschlange gedrängt hatte. Eine neue Statistik. Eine neue Aufgabe, die vor ihr lag.
Kate zog sich die engen Gummihandschuhe über die Finger und schaute auf den Seziertisch hinunter. Vor ihr lag, zur Untersuchung bereit, der Körper des Mädchens. Kate schätzte sie auf etwa elf …, vielleicht zwölf, vielleicht zehn. In dieser kurzen Zeitspanne war das Leben nicht freundlich zu ihr gewesen. Das bezeugten die Narben auf ihrer leblosen Haut und die Brüche, die man auf den Röntgenfilmbetrachtern hinten im Raum sehen konnte. Kate hätte gerne das Gehirn des toten Mädchens durchleuchtet, um zu ergründen, was in ihrem Leben passiert war. Aber so einfach war nichts auf der Welt. In Kates Leben jedenfalls nicht. Wohl wissend, dass das Mädchen bereits schreckliche Qualen erlitten hatte, jedoch beruhigt durch die Gewissheit, dass der Schmerz ihm jetzt nichts mehr anhaben konnte, griff Kate zum Skalpell. Sie knipste das Aufnahmegerät an und begann zu diktieren, während sie sich an die Arbeit machte.
Delaney eilte durch die Gänge und betrat Vernehmungszimmer Nummer eins. Wenn überhaupt etwas anders
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