HMJ06 - Das Ritual
Lady nahm den Briefumschlag an sich, warf einen kurzen Blick hinein, dann befeuchtete sie den Klebestreifen des Umschlags und verschloss ihn.
»Bitte vergewissern Sie sich, dass das Schloss an Ihrem Münzetui verriegelt und unversehrt ist«, forderte sie ihn auf. »Denn ich möchte Ihnen das Kästchen im gleichen Zustand zurückgeben, wie Sie es mir ausgehändigt haben.«
Jack beugte sich über das Etui und tat so, als untersuchte er das Schloss eingehend. Dabei behielt er jedoch die Hände der Lady genau im Auge. Und tatsächlich! Sobald er den Kopf senkte, sah er, wie sie den Geldumschlag gegen einen anderen austauschte, den sie aus dem weiten Ärmel ihres Gewandes hervorzog.
Wie du mir, so ich dir, dachte er. Aber einen Austausch bin ich dir noch immer voraus.
»In Ordnung«, stellte er fest und blickte hoch. »Ist noch verriegelt.«
»Und jetzt«, sagte sie, während sie den kleinen Holzkasten öffnete, »werde ich den Umschlag versiegeln.«
Sie holte eine rote Kerze aus der Box sowie eine Schachtel Streichhölzer und etwas, das aussah wie ein Siegelring. Sie zündete die Kerze an. Dann träufelte sie ein wenig Kerzenwachs auf die Rückseite des Briefumschlags und drückte den Ring in die weiche Masse.
»So. Ich habe den Umschlag mit einem Geistsiegel gesichert. Sie dürfen ihn nicht öffnen. Sie dürfen das Siegel erst dann brechen, wenn Ihr Etui nicht von der Anderen Seite zurückkommen sollte. Sollten Sie das Siegel vorher aufbrechen, wird Ihr Onkel Sie bestrafen.«
Jack schluckte krampfhaft. »Mich bestrafen? Wie?«
»Am wahrscheinlichsten ist, dass er das Geld verschwinden lassen wird. Aber ihm könnte auch noch etwas Schlimmeres einfallen.« Drohend hob sie den Finger, während sie den Briefumschlag über den Tisch zu ihm hinschob. »Also öffnen Sie ihn nicht, ehe Sie hierher zurückkommen.«
Sehr clever, dachte Jack. Sie sichert sich nach allen Seiten ab.
»Keine Sorge. Das werde ich nicht tun.« Er legte den Umschlag in seinen Schoß, dann verstaute er ihn sowie ihre zweieinhalbtausend Dollar in der Seitentasche. »Oh, hey, ich muss morgen geschäftlich verreisen – ich bleibe über Nacht in Chicago –, daher kann ich erst am Donnerstag wieder herkommen. Werden Sie bis dahin diesen Apport – oder wie es heißt – auf die Andere Seite geschafft haben?«
»Ja, ich denke schon, und wahrscheinlich ist das Etui bis dahin auch schon wieder zurück.«
Du meinst wohl, dachte er, dass du bis dahin die Goldmünzen gegen billigen Silberkram ausgetauscht haben wirst.
Er schob das Etui über den Tisch. »Dann legen Sie los. Und viel Glück, Onkel Matt, wo immer du jetzt gerade bist.«
Jack erhob sich, winkte Madame Pomerol grüßend zu und ging zur Tür. »Dann bis Donnerstag.«
Er spürte, wie ein Lachen in seiner Kehle hochstieg, während er das Wartezimmer und anschließend den Flur durchquerte. Aber er unterdrückte es erfolgreich. Er wollte nicht ihr Misstrauen wecken. Er benutzte die Treppe, anstatt auf den Fahrstuhl zu warten, denn über dem Ventilator schwebte ein Riesenhaufen Scheiße, und er wollte nicht in der Nähe sein, wenn er herunterfiel und auf dem Ventilator landete.
» Verriegle die Haustür«, sagte Madame Pomerol gerade in Jacks Ohrhörer, »und dann wollen wir uns die Münzen mal ansehen.«
Jack hatte die Vorhalle erreicht, als er Foster sagen hörte: »Scheiße! Mit diesem Schloss stimmt etwas nicht!«
»Was ist los?«
»Es klemmt.«
Eine gute Diagnose, Carl, dachte Jack, während er dem Portier zuwinkte und auf die Straße hinaustrat. Er hatte ein Streichholz ins Schloss des zweiten Etuis geschoben und abgebrochen.
Anstatt sich schnellstens zu entfernen, verharrte Jack draußen auf dem Fußweg. Er wollte alles mithören.
»Sieh dir das an«, sagte Foster. »Ich möchte bloß wissen, wie das dort hineingelangt ist. Aber nicht schlimm, ich hab’s rausgeholt. Nur noch ein paar Sekunden … so. Gleich gehen dir die Augen über – o Scheiße! O nein!«
»Lass mich mal …« Madame Pomerol brach ächzend ab. »Was zur Hölle? Du hast erzählt, dieses Ding sei voller Goldmünzen! Bist du blind?«
»Das war es auch! Ich schwöre es dir! Ich weiß nicht, was …«
»Ich aber! Der Mistkerl hat heimlich getauscht! Er hat uns von Anfang an ausgetrickst! Und du hast ihn reingelassen!«
»Ich?«
»Ja, du, du armseliges Arschloch! Du sollst diese Penner doch genau durchleuchten!«
»Das hab ich auch getan! Ich habe seine Adresse überprüft, hab die Telefonnummer angerufen,
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