HMJ06 - Das Ritual
die er mir genannt hat!«
»Ja, wunderbar, und du kannst darauf wetten, dass der Robert Butler unter dieser Adresse nicht der Typ ist, den wir heute hier hatten, und das Telefon, das du angerufen hast, gehört bestimmt auch zu dieser Adresse. Verdammt! Verdammt! Verdammt!«
»Hey, betrachten wir es doch einfach von der angenehmen Seite. Er glaubt, er ist mit zweieinhalbtausend rausgegangen, dabei hat er nur ein Bündel zerschnittenes Zeitungspapier in der Tasche. Und wir haben dafür seine fünfhundert. Ich wünschte, ich könnte sein Gesicht sehen, wenn er den Umschlag öffnet. Mag sein, dass er uns aufs Kreuz gelegt hat, aber bei der ganzen Sache gewonnen haben letzten Endes wir.«
»Glaubst du, das interessiert mich einen feuchten Scheiß? Diese fünfhundert Dollar können mich mal! Was mich an der Sache rasend macht, ist, dass er uns aufs Kreuz gelegt hat. Er hat ein bisschen Geld verloren, gut, aber soweit es mich betrifft, hat er gewonnen. Er ist zu uns gekommen und hat uns ausgetrickst – in unseren eigenen vier Wänden! Als wären wir die blutigsten Amateure. Wenn das die Runde macht, können wir uns nirgendwo mehr blicken lassen. Dann stehen wir wie hoffnungslose Idioten da!«
Das ist richtig, dachte Jack und nahm sich den winzigen Hörer aus dem Ohr. Aber schon bald werdet ihr als noch viel hoffnungslosere Idioten dastehen.
Er hoffte, dass sich ihre Wut nicht so bald legte, dass sie zu wütend waren, um zu ahnen, dass der eigentliche Clou erst noch käme.
Er pumpte mit der Faust, während er über die Straße tanzte. Das war einfach spitzenmäßig gelaufen, und es würde noch besser enden.
9
Gia erwachte aus einem Traum von blauen Augen.
Sie gähnte und streckte sich in dem breiten Ledersessel, in dem sie und Jack es sich oft gemütlich machten, um sich einen seiner seltsamen Filme anzusehen.
Sie gähnte noch einmal. Sie machte eigentlich niemals ein Nickerchen. Sie hatte sich hingesetzt und die Augen geschlossen, nur für eine Minute, und plötzlich waren vierzig Minuten verstrichen. Vielleicht war daran die Schwangerschaft schuld – oder die Tatsache, dass sie am Vorabend mit Jack sehr lange aufgeblieben war. Sie erinnerte sich, dass sie damals, als sie mit Vicky schwanger gewesen war, auch ständig über Müdigkeit geklagt hatte.
Egal, was der Grund war, das Nickerchen hatte sie nicht erfrischt. Bilder von dem blonden Mädchen vom Vortag hatten ihren Schlaf bestimmt, traurige, einsame blaue Augen, die Gia zu rufen schienen, sie anflehten …
Weshalb? Was wollte das Kind von ihr? Warum ging ihr das Mädchen nicht aus dem Kopf?
Auch das bewirkt die Schwangerschaft. Klar, gib den hormonellen Schwankungen die Schuld an allem. Einen Sommertag allein im Haus zu verbringen – ohne die Aussicht, Vicky früher als vor dem Wochenende zu sehen –, war auch keine Hilfe.
Gia stemmte sich aus dem Sessel hoch und griff nach ihrer Schultertasche. Sie wollte nicht im Haus bleiben. Sobald sie in den warmen, feuchten Nachmittag hinaustrat, wusste sie, wohin sie wollte.
Sie hatte für die U-Bahn nie besonders viel übrig gehabt – dieses Gefühl der Eingeschlossenheit in den dunklen Tunnels machte sie nervös und gereizt. Heute aber schien sie genau das richtige Transportmittel zu sein. Ein kurzer Fußmarsch rüber zur Lexington brachte sie zur Station in der Fifty-ninth Street, wo, wie sie wusste, die Züge der Linien N und R, in der City nur als »Niemals« und »Rar« bekannt, verkehrten. Sie war mit dem genauen Verlauf der einzelnen U-Bahn-Linien nicht vertraut, doch der schematische Stadtplan über der Fahrkartenausgabe zeigte ihr, dass sie die Linie N mitten ins Zentrum von Astoria bringen würde.
Es war kurz vor der Rushhour, und der Waggon war nahezu voll. Das Schaukeln löste bei ihr einen Anflug von Übelkeit aus, bis die Gleise in die Höhe stiegen, den Tunnel verließen und unter freiem Himmel verliefen. Sie seufzte erleichtert auf, als der Sonnenschein durch die spinnwebdünnen Graffitikratzer auf den Fenstern hereindrang.
Die hoch über der Straße verlaufenden Gleise endeten an ihrer Haltestelle, dem Ditmars Boulevard. Sie stieg aus dem Waggon und eilte zu der Treppe, die zur Straße hinunterführte. Sie hatte eine ziemlich genaue Vorstellung, wo sich das Menelaus Manor befand und wie sie vom Ditmars auf dem kürzesten Weg dorthin gelangen konnte. Sie brauchte sich, wenn sie erst einmal dort war, nur genau zu orientieren …
»Gia?«
Sie erschrak beim Klang ihres Namens.
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