Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Hochsaison. Alpenkrimi

Titel: Hochsaison. Alpenkrimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
Vom Netzwerk:
dreißig Meter von ihr entfernt. Sie fluchte und wollte sich aufrappeln. Die Lawine war noch zwanzig Meter von ihr entfernt. Beim ersten Auftreten spürte sie schmerzhaft, dass sie sich den Knöchel verstaucht hatte. Zehn Meter. Oder gebrochen, sie konnte jedenfalls keinen Schritt mehr weiterlaufen. Fünf Meter. Sie schrie aus Leibeskräften um Hilfe. Drei Meter. Sie warf sich auf den Boden und legte sich flach hin, in der naiven Hoffnung, dass die Schneemassen über sie hinwegdonnern würden. Ein Meter.

30
    Herr Wurchterdinger vom Vertrieb, der den Großherzog von Regensburg verkörperte, war von den übrigen Teilnehmern während der ganzen Veranstaltung milde belächelt worden. Er war der behäbigste unter den Eventlern, ein mächtiger Bauch wölbte sich unter seinem Kettenhemd, prustend und schnaubend war er den Weg zum Schachen hinaufgestapft, recht schweigsam war er gewesen, der Großherzog, aber auch er wollte natürlich Flexibilität zeigen, Offenheit, Teambereitschaft, Beweglichkeit und vieles andere mehr. Er blieb stehen und blickte nochmals zurück auf die abgegangene Lawine. Er zog seine kleine Digitalkamera unter dem Kettenhemd hervor und fotografierte die friedliche, weiße Landschaft. Der Hornschlitten des Königs stand wie hindrapiert auf der Straße, die livrierten Träger und Schlepper in Königsblau hatten sich davongemacht, auch die anderen Teilnehmer des Events waren schon unterwegs in Richtung Schachenhütte. Herr Wurchterdinger knipste noch einmal das unberührte Weiß mit Hornschlitten, dann wandte er sich um, um den anderen nachzustapfen.
     
    Hätte er doch bloß noch ein wenig gewartet! Ein paar Sekunden nur, dann hätte er ein wirklich außergewöhnliches Fotomotiv vor Augen gehabt, eine frühlingshafte Studie voller Anmut und Grazie. An einer Stelle brach nämlich der Schnee auf, und etwas Kleines, Zierliches wuselte sich durch die weiße Matte. Ein paar Finger waren zu sehen, dann eine zappelnde Hand, die
einen kalbsledernen Handschuh trug. Jetzt kamen Ärmel zum Vorschein, die mit feinen Brüsseler Spitzen verziert waren, ein rostroter Samtbesatz schob sich durch das schmutzige Feucht, schließlich erschien eine gepolsterte Schulter mit dem dazugehörigen Köpfchen, das von gedrehten Stöpsellocken umrahmt war. Ilse Schmitz arbeitete sich jetzt ganz heraus und klopfte sich den Schnee von ihrem durchnässten Kurtisanengewand ab. Da stand es nun, das untote Schneeglöckchen, allerdings ohne Schuhe, die waren unten im Schnee stecken geblieben. In der Hand hielt Ilse immer noch die silberbeschlagene Büchse, die ihr Seine Majestät, der König, zum Gemsenschießen respektive Pappscheibenschießen zur Verfügung gestellt hatte.
     
    Ilse hatte verdammtes Glück gehabt. Sie war nach ihrem Sturz vom Pferd in einer kleinen Bodenvertiefung zum Liegen gekommen, und als die Lawine über sie hinweggedonnert war, hatte sie die Wucht des Schnees zunächst nach unten gedrückt, dann nach gewissen physikalischen Gesetzen semi-fluider Körper wieder hochgespült. Es war so etwas wie die Wurzel aus Gewicht durch Geschwindigkeit minus Omega, aber Hauptsache, sie lebte. So war sie dann nur von einem halben Meter Schnee bedeckt gewesen, und wusste im ersten Moment nicht so recht, ob sie überhaupt noch lebte. Sie konnte sich aber schnell befreien. Ilse Schmitz, der Phönix aus der weißen Asche, schüttelte sich jetzt und sah sich um: kein Mensch weit und breit. Eine neue Prüfung? Eine neue Herausforderung? Eine neue Chance, Punkte zu sammeln? Vielleicht, zuallererst aber hatte sie das Bedürfnis, sich die Zehen zu wärmen. In einiger Entfernung stand die einladende Sänfte Ludwigs des Zweiten, und sie stolperte darauf zu. Dort drinnen konnte sie sich vielleicht auch ein wenig abtrocknen. Sie warf das Gewehr hinein und kletterte durch die Seitenluke in die enge Kajüte. Klar, sie musste hinauf zu den anderen, zur Schachenhütte,
um von dort oben Hilfe zu holen. Aber erst mal die Füße trockenreiben. Oder waren die anderen auch verschüttet worden? Nein, sie waren doch geflohen, so viel hatte sie noch gesehen.
    Ilse Schmitz zog sich die tropfnassen Seidensocken aus, die in feinstem Lütticher Kanariengrün gehalten waren, und massierte ihre Zehen. Doch kaum war ein bisschen Wärme in ihr aufgestiegen, als sie jäh herumgerissen wurde. Sie verlor den Halt und krachte auf den Boden. Die ganze Art der schnellen Kreiselbewegung und ein Blick aus der Einstiegsluke verrieten ihr, dass der Schlitten gedreht

Weitere Kostenlose Bücher