Hochzeit im Herrenhaus
ihren Fußknöchel verstaucht und war von ihrem Vater hochgehoben worden. Doch die seltsamen Emotionen, die jetzt in ihr aufstiegen, hatte sie damals nicht empfunden. Kein eigenartiges Flattern in der Magengrube, keine beschleunigten Pulsschläge … Und warum erhitzte sich ihr Blut, wo sie doch eben noch so erbärmlich im Eiskeller gefroren hatte? Das verstand sie beim besten Willen nicht.
Als sie behutsam auf ihr Bett gelegt wurde und die starken Arme sie nicht mehr umfingen, wusste sie nicht, ob sie sich erleichtert oder enttäuscht fühlen sollte. Ebenso wenig wusste sie, ob Ärger oder Belustigung angemessen war, weil trotz ihres nachdrücklichen Protests der Arzt gerufen wurde und man ihr eine völlig überflüssige Untersuchung zumutete. Noch etwas konnte sie nicht entscheiden – sollte sie den Befehl Seiner Lordschaft, sie müsse den restlichen Tag im Bett verbringen, hinnehmen oder ignorieren?
Nur eins wusste sie. Nachdem Eliza Disher das Tablett mit dem Abendessen entfernt hatte, stattete der Viscount ihr einen Besuch ab, brachte ihr die vierbeinige Retterin mit, und da verspürte sie grenzenlose Dankbarkeit. Immerhin hatte er alles Menschenmögliche getan, damit sie sich nach dem unangenehmen Zwischenfall möglichst schnell erholte.
“Wenn du mir noch ein einziges Mal dankst, wirst du mich langweilen, meine liebe Cousine”, warnte er und hob eine Hand, um ihren Wortschwall zu unterbrechen. “Außerdem solltest du deiner Freundin Rosie danken, nicht mir.”
Sobald die Hündin ihren Namen hörte, fasste sie das als eine Einladung auf, aufs Bett zu springen, was sie prompt tat. Glücklich kuschelte sie sich an die junge Dame, die sie zu ihrer Herrin erwählt hatte. Annis unternahm nichts dagegen. Wie sollte sie auch? Niemals hätte sie es über ihr Herz gebracht, das liebevolle kleine Tier wegzustoßen.
Inzwischen hatte Eliza ihr erzählt, durch die unerwartete Ankunft des Spaniels sei Seine Lordschaft veranlasst worden, nach ihrer Herrin zu suchen. Und obwohl Annis ahnte, Rosies Anwesenheit im Manor würde keine einmütige Begeisterung hervorrufen, bedauerte sie nicht im Mindesten, dass sich die Hündin hierhergewagt hatte.
“Was sollen wir jetzt mit ihr machen?”, fragte sie. Geistesabwesend streichelte sie das seidige Fell. Hatte sie ihre Gedanken tatsächlich laut ausgesprochen? Das merkte sie erst, als sie den Viscount, der in einem Sessel neben dem Bett saß, belustigt lächeln sah. “O nein, Cousin De-verel, niemals würde ich dich bitten, Rosie aufzunehmen”, beteuerte sie verlegen. “Du hast schon genug für sie getan. Außerdem weiß ich, du magst keine Hunde.”
“Da irrst du dich ganz gewaltig”, protestierte er erstaunt. “Gar nichts habe ich für sie getan. Wilks hat sie gebadet, von der Köchin wurde sie gefüttert. Und der Lakai, der über sie stolperte und stürzte, hat ihr längst verziehen. Er ging sogar mit ihr spazieren. Warum glaubst du, ich würde Hunde nicht mögen? Das begreife ich nicht.”
“Ach ja – ich bin ganz verwirrt. Es ist Sarah, die sich nichts aus ihnen macht.”
“Allerdings, sie zieht Katzen vor. Aber sogar meine Schwester findet, wir dürfen den Spaniel nicht zu Nanny Berry zurückbringen, die übrigens bereits über seinen Verbleib informiert wurde.” Die Brauen vielsagend hochgezogen, fügte er hinzu: “Offenbar hatte dein Besuch im Cottage heute Vormittag – wie soll ich es ausdrücken? – gewisse Folgen.”
Annis gab nicht vor, die Bemerkung misszuverstehen. “Meinst du meine Neugier, die mich in den Eiskeller trieb? Ja, ich gebe es zu. Nachdem ich gehört hatte, du seist als Kind darin eingesperrt worden, wollte ich herausfinden, was du damals empfunden haben musst.” Bei dieser Erinnerung erschauerte sie. “Wie leichtfertig von mir …”
“Ja, ich war überrascht, weil du trotz deiner Angst vor dunklen geschlossenen Räumen hineingegangen bist. Davon hast du erst neulich gesprochen”, fuhr er fort, einen vorwurfsvollen Unterton in der Stimme. “Und warum bist du nicht herausgekommen? Weil du in Panik geraten bist? Wusstest du nicht, was du tun solltest?”
“Wovon um alles in der Welt redest du, Deverel?”, rief Annis verblüfft. “Die Tür war versperrt.”
Bestürzt hielt er den Atem an.
“Oder etwa nicht?” Annis schüttelte verwundert den Kopf. “Ja, so muss es gewesen sein. Jedenfalls konnte ich die Tür nicht öffnen, zumindest nicht von innen. Immer wieder klopfte ich dagegen und rief um Hilfe.”
Hätte eine
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