Hochzeit in Hardingsholm
Blick in den Spiegel. Die Ohrringe!
Linn konnte sie nicht mehr ertragen. Schwer wie Blei schienen sie an ihren Ohrläppchen zu hängen. Sie zog sie ungeduldig aus, wollte sie zurück in die kleine Schachtel legen und hielt plötzlich das Briefchen in der Hand, das er damals dazugelegt hatte.
Für immer, Lars!
Für immer? Sein Versprechen hatte er bereits nach wenigen Monaten gebrochen. Er war geflohen vor seinem Leben, vor ihr.
Verdammt, warum war er überhaupt zurückgekommen? Er war nicht gut für sie. Er war es damals nicht gewesen, und jetzt war er es erst recht nicht.
Linn ließ die Hände sinken, starrte hilflos ihr Spiegelbild an. Sie hatte geglaubt, das Richtige zu tun. Sie war sich sicher gewesen, dass sie und Erik perfekt zusammenpassten. Und dann tauchte Lars auf, und plötzlich drängten sich Zweifel an die Oberfläche, die vorher nicht da gewesen waren. Oder hatte sie sie einfach nicht wahrgenommen? Nicht wahrnehmen wollen?
Linn atmete tief durch. Nein, sie wollte solche Gedanken auch jetzt nicht zulassen. Mehr noch, sie würde sie nicht zulassen und mit aller Kraft dagegen ankämpfen. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen und würde morgen Erik heiraten. Nichts konnte die Hochzeit verhindern. Nichts!
– 14 –
D as Gästezimmer!
Lars konnte nicht umhin, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Eben noch hatte er geglaubt, er wäre nach Hause gekommen, aber ausgerechnet Linn hatte ihn auf seinen Platz verwiesen.
Er war hier nur Gast. Und soweit er ihr Verhalten deutete, war er nicht einmal ein willkommener Gast.
Er trat ans Fenster, starrte hinaus. Diese Aussicht hatte er so oft vor seinem inneren Auge gehabt in den vergangenen Jahren, so oft hatte er davon geträumt. Von der Wiese, die sich bis zum Fjord erstreckte. Von der klaren Luft, dem weiten Himmel. All das hatte für ihn in Gedanken sein Zuhause ausgemacht, aber jetzt, wo er hier war, fühlte er sich weniger zu Hause, als er es während seiner Abwesenheit in seinen Gedanken und Bildern gewesen war.
Zuhause, das war nicht einfach nur der Ort, an dem er aufgewachsen war. Komisch, dass ihm das erst jetzt klar wurde. Zuhause, das waren die Menschen, die er zurückgelassen hatte, und es war wohl ziemlich vermessen gewesen zu erwarten, dass er mit offenen Armen empfangen werden würde.
Aber genau das hatte er erwartet! Ein wenig Wut vielleicht, aber dahinter Freude und vor allem Erleichterung, weil er wohlbehalten wieder nach Hause gekommen war. Nicht einen Augenblick hatte er mit dieser kühlen Gleichgültigkeit gerechnet, schon gar nicht von Linn. Und noch weniger damit, dass sie nicht mehr frei war. Dass es jetzt einen anderen Mann in ihrem Leben gab … ausgerechnet seinen Bruder!
In seinen Gedanken war die Welt in seiner Heimat stehen geblieben, und nun musste er feststellen, dass sie sich auch hier weitergedreht hatte.
»Hast du erwartet, dass alles so bleibt, wie du es verlassen hast? Dass ich auf dich warte, ohne zu wissen, ob du überhaupt jemals wiederkommst?«, erklang ihre Stimme wieder in seinem Ohr.
Hatte er überhaupt jemals den Gedanken zu Ende gedacht, was er den Menschen, die er zurückgelassen hatte, angetan hatte? Hatte er sich in all den Jahren überhaupt ernsthaft Gedanken darüber gemacht, wie es Linn durch seinen Schritt ergangen war? Linn, mit der er einst ein gemeinsames Leben geplant hatte, bis dass der Tod uns scheidet – und dann hatte er sie verlassen, von einem Tag auf den anderen. Dass er Linn verloren hatte, war seine eigene Schuld, und das wog viel schwerer als alles andere.
Er hatte lange versucht sich einzureden, dass der Unfall seiner Eltern die Ursache für seine Flucht gewesen war, dass der Schmerz über ihren Tod leichter würde, wenn er nur wegkam aus dieser Umgebung, aus der sie herausgerissen worden waren. Aber er hatte bald einsehen müssen, dass die Distanz ihm keine Linderung verschaffte. Es war die Zeit, die allmählich die Wunden geheilt hatte. Und dabei war ihm aufgegangen, dass es zum größten Teil das ihm so verhasste vorgeplante, wohl geordnete Leben gewesen war, das er nicht mehr ausgehalten hatte.
Jetzt aber traf ihn die Erkenntnis mit voller Wucht: Er liebte Linn immer noch. Er hatte es all die Jahre nicht wahrhaben wollen und jeden Gedanken daran verdrängt. Das Bild von ihr in ihrem Hochzeitskleid, mit diesen Ohrringen, schob sich vor sein inneres Auge, und in diesem Moment konnte er sich sogar vorstellen, das einst so verhasste Dasein zu führen, wenn sie nur an seiner Seite
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