Höchstgebot
will. Was sollte dieses ›etwas‹ anderes sein als die Information, wo die Primzahl versteckt ist? Also schnappen sie sich Carsten.«
»Ja, sehr gut möglich. Aber Ingrid ist damit nicht aus der Sache raus. Sie könnte Debriek geholfen haben. Sie wollte ihren Bruder ökonomisch vernichten, warum nicht auch physisch, wenn sich eine so gute Chance ergibt?« Micky verstummte, als ein Firmentechniker zu ihnen trat.
»Der Countdown für den Test dort drüben läuft ab«, sagte er. »Wir müssen Sie aus Sicherheitsgründen bitten, sich in das Kontrollzentrum zu begeben.«
Als die überdimensionale rote LED-Uhr über der Teststrecke null Sekunden anzeigte, wurde das orangefarbene Auto in kürzester Zeit auf vierundsechzig Stundenkilometer beschleunigt und raste gegen einen großen Metallblock. Selbst durch die Panzerscheiben des Kontrollraums war der Aufprall noch gut zu hören. Der Wagen sprang heftig zurück und blieb als schauerliches Wrack schräg auf der Strecke stehen.
Der Test war so rasend schnell vorbei, dass sie gebannt auf die Bildschirme schauten, wo in Zeitlupe die Aufnahmen der Highspeedkameras wiederholt wurden, die den Crash aus allen Perspektiven gefilmt hatten.
Die Bilder aus dem Innenraum ließen keinen in der Leitstelle unbeeindruckt. Die Fahrgastzelle wurde nach oben hin zusammengefaltet wie Papier, das Lenkrad stieß so tief in den Raum hinein, dass der hin- und herschlenkernde Kopf des Fahrerdummys am Airbag vorbeirutschte und mit kaum geminderter Wucht auf die Armaturen prallte. Vom Kopf des Beifahrers, der bei seinem Aufschlag ohne Airbagschutz große rote und grüne Farbflecken auf dem Armaturenbrett hinterlassen hatte, war ein großes Stück abgeplatzt.
»Ein Chinese«, sagte der Cheftechniker beinahe entschuldigend.
»Der Dummy?«, fragte Molendorp verwirrt und erntete ein hämisches Grinsen.
Nachdem sie den Kontrollraum wieder verlassen hatten, blieben Micky, Katja und Molendorp noch eine Weile schweigend vor dem Testschlitten stehen, auf dem Carsten Roeder zu Tode gekommen war.
»Die Schmerzen, die er gehabt haben muss. Und die Todesangst! Seine Panik vor jedem neuen Aufprall«, empfand Katja noch ganz unter dem Eindruck des Crashtests nach.
»Welcher Sadist hat seelenruhig danebengestanden und sich das angeschaut?«, fragte Molendorp.
Micky nickte. Plötzlich wusste sie, was zu tun war. »Frau Hellriegel braucht unbedingt die Hand von Carsten Roeder«, sagte sie eindringlich zu Molendorp. »Jetzt sofort!«
28
Uneingeweihte hätten diesen Job zweifellos als Strafarbeit gewertet, aber Robert hatte ein Faible für Rissverklebungen. Jedenfalls, solange sie nicht zu häufig anstanden. Wenn er die gerissenen Fäden einer Leinwand sortierte und sie Stoß auf Stoß setzte, um sie wieder miteinander zu verbinden, herrschte schon nach kurzer Zeit eine unglaubliche Ruhe und Konzentration in ihm.
Anouk und er saßen einander gegenüber an einem schmalen Tisch und arbeiteten parallel. Das Atelier war gut ausgerüstet und so hatte man ihnen zwei binokulare Operationsmikroskope mit vierzigfacher Vergrößerung zu Verfügung stellen können. Und nachdem sie sich darauf verständigt hatten, dass Anouk in den ungeraden und Robert in den geraden Stunden die Musik aussuchen durfte, konnten sie beginnen.
Das Bild und der aus dem Rahmen gerettete Rand lagen mit der Malschicht nach unten vor ihnen. Obwohl Robert die Leinwandstücke so gut wie möglich planiert hatte, würden am Ende selbst im besten Fall einige kleinere Lücken bleiben. Der Eigentümer würde sich überlegen müssen, ob er die Narben ertragen konnte oder sie mit einem breiteren Rahmen verdecken wollte.
Über das Mikroskop gebeugt, mit feinen Pinzetten und Sonden in den Händen, ordneten sie abschnittweise die Fäden einander zu und setzten auf die Fadenenden kleinste Acrylkleberpunkte, die sie mit einer heißen Lötnadel aktivierten. Sobald ein Abschnitt fertig war, legten sie zur Stabilisierung der Naht zusätzlich längere Fäden an und spannten sie wie Brücken über den verklebten Riss. Trotz dieser vielen Arbeitsschritte kamen sie schnell voran.
Als Robert seine Nackenschmerzen nicht mehr ignorieren konnte, war es schon früher Nachmittag. Sie hatten die Mittagspause verpasst.
»Sag mal, hast du gar keinen Hunger?«, fragte er.
»Würdest du noch mal ein Picknick mit mir wagen?«, fragte sie zurück.
»Wenn du mich nicht auffrisst«, sagte Robert.
»Ich will nur noch eben diesen Abschnitt fertig machen.«
Während Robert
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