Höchstgebot
Kopf zur Seite. Einige Sekunden lang blieb er so stehen, als hörte er einen seltenen Vogel singen.
»Sie haben erst durch mich erfahren, dass die Tote Sybille Wenger war?« Micky konnte nicht verhindern, dass in ihrer Stimme Verlegenheit und Ärger mitschwangen. Verlegenheit wegen der Beiläufigkeit, mit der sie Hinrichs erzählt hatte, dass seine Kollegin ums Leben gekommen war, und Ärger, weil sich Hinrichs keinerlei Erschütterung hatte anmerken lassen. War das die deutsche Art zu trauern? Oder hatte sie es hier mit dem Prototypen des soziopathischen Wissenschaftlers zu tun?
»Sie war offenbar Täterin und Opfer zugleich«, stellte Hinrichs mit einer Kopfbewegung zur verbrannten Fassade fest.
Micky wusste nicht recht, wie sie das Gespräch fortsetzen sollte.
Hinrichs nutzte ihr Zögern: »Pyrotechnische Untersuchungen gelten doch den praktischen Auswirkungen hoher Temperaturen? Aber Ihre Fragen waren bisher alle persönlicher Art.«
»Auch auf diesem Gebiet kann es heiß hergehen«, wich Micky aus. »Hatte Sybille Wenger Probleme, innerhalb oder außerhalb der Firma?«
»So gut kannte ich sie nicht«, erwiderte Hinrichs.
»Haben Sie denn eine Idee, warum sie den Brand gelegt haben könnte?«
Hinrichs sah sie regungslos an. »Wie ich schon sagte …«
»Und wie konnte sie hier unbemerkt hereinkommen?«
»Um eine solche Theorie durchzuspielen, benötige ich eine deutlich höhere Zahl von Parametern«, sagte Hinrichs. »Aber jetzt muss ich zu einer Sonderkonferenz der Konzernleitung.«
»Sie gehen nirgendwo hin!« Sofort verfluchte sie diesen Reflex ihres ehemaligen Berufs. Damals hatte niemand das Vernehmungszimmer verlassen, bevor sie es nicht erlaubt hatte. Hinrichs verzog das Gesicht, als hätte er eine Psychiatriepatientin mit Größenwahn vor sich. Er beschränkte sich jedoch auf ein verwundertes Nicken und verschwand mit kurzen Schritten um die Ecke. Micky blieb nichts anderes übrig, als eine Notiz hinzuzufügen: JH leidet an Autismus oder einer verwandten Störung. Bauernschläue. Blinder Fleck für Emotionen.
Schon wieder. Wieder hatte sie sich benommen wie eine Polizistin, die widerborstige Verdächtige eine Weile hinter verschlossener Tür abkühlen lassen konnte, wenn es ihr verhörtechnisch so passte. Sie war zur Weststraße gelaufen und spontan nach rechts abgebogen. Der gewalttätige Zwischenfall mit Hinrichs hätte im Präsidium zu mindestens einem gründlichen Briefing geführt. Um ihr bei der Verarbeitung zu helfen. Und um zu analysieren, welche Fehler sie gemacht hatte. Oder auch nicht.
Sie überquerte eine Straße und gelangte in einen Park. Im Grunde hätte sie ein paar Kilometer laufen müssen, um dabei auf andere Gedanken zu kommen. Plötzlich übertönte ein Akkordeonorchester mit einem schrillen Akkord die Stadtgeräusche, ein Alarmschrei, der in eine chaotische Notenabfolge überging, schließlich jedoch in einen ruhigen Walzer einmündete. Die Töne schallten ihr aus der offen stehenden Tür eines Wohnblocks entgegen. Micky lauschte, bis sich ihr Handy als einzige echte Dissonanz erwies. Widerwillig meldete sie sich. Es war Robert.
Micky fragte: »Hast du inzwischen alles unter Kontrolle?«
»Das wäre langweilig«, erwiderte Robert.
Micky hörte die unterdrückte Aufregung in seiner Stimme.
»Wo bist du?«, fragte sie.
»Ich befinde mich in einer Dritte-Welt-Region namens Lüttich. Und versuche gerade in einer Arena zu überleben, in der drei Polizeibehörden, eine Versicherungsgesellschaft und der Anwalt des Eigentümers um einen soeben wiedergefundenen, aber schwer beschädigten 43-Millionen-Euro- Magritte kämpfen.«
»Und du bist der kluge Hund, der sich mit dem Knochen davonschleicht?«
Robert stieß ein zufriedenes Lachen aus. »Ich hoffe, noch heute in die Zivilisation zurückzukehren, und zwar mit den Resten des Bildes. Und dann werde ich eine Weile alle Hände voll mit der Restaurierung dieses Millionenschätzchens zu tun haben. Wie sieht es denn in deinen Auftragsbüchern aus?«
»Ich werde die nächste Zeit in Aachen verbringen«, sagte Micky und spazierte weiter durch den Park. »Ich bin mit Carsten Roeder ins Geschäft gekommen. Vielen Dank noch mal! Dafür lade ich dich zum Essen ein.«
»Carsten wird dich dringend brauchen. Der Brand könnte für Roeder den Untergang bedeuten. Falls Ingrid Roeder ihre frisch erbeuteten Millionen nicht in den Betrieb investiert.«
»Warum sollte sie das nicht tun? Brüderchen und Schwesterchen haben doch ein
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