Höchstgebot
letzten Moment auswich, und trat weiter wie blind auf die Straße. Eine Horde von der Ampel freigelassener Autos stürzte sich hupend auf sie.
Aber Anouk ignorierte sie und die Fahrer bremsten tatsächlich abrupt ab. In Deutschland, wo das Autofahren eine Frage des Rechthabens war, wäre sie jetzt wohl schon tot gewesen. Was war los mit ihr? Stand sie auch unter Medikamenten? Nein, dafür ging sie viel zu zügig. Herrisch wirkte sie, als wollte sie ihre innere Freiheit nicht von banalen äußeren Regeln beschränken lassen.
Anouk hatte inzwischen den Mittelstreifen erreicht. Roberts Muskeln spannten sich an, als sie ohne Zögern auf die Straße trat und ein mit hohem Tempo herankommender BMW im letzten Augenblick um sie herumschlingerte. Hatte er wieder Halluzinationen?
Anouk schien jedenfalls von all dem nichts zu bemerken. Auch nicht von dem Bus, der auf der Busspur heranbrüllte. Instinktiv rannte Robert los, hörte kein Hupen, sprang über den Bordstein, warf die Hände nach vorne in das extrabreite Revers von Anouks Sommermantel und riss so an ihm, dass Anouk herumgewirbelt wurde und vom Bus weg schreiend vor Schreck auf den Bürgersteig stürzte.
Die Bremsen des Busses pfiffen scharf, die Vordertür puffte auf und der Fahrer sprang wütend heraus. Anouk, die sich mit tränengefüllten Augen die schmerzende Hüfte rieb, brüllte ihm ein ganzes Lexikon von Schimpfwörtern entgegen, bis selbst dieser hartgesottene Cowboy des öffentlichen Personennahverkehrs wortlos und vogelzeigend in sein Gefährt zurückstieg.
»Sind hier jetzt alle verrückt geworden?«, richtete sich Anouk nun gegen Robert.
»Dasselbe wollte ich dich gerade fragen«, gab er immer noch außer Atem und mit ebenfalls schmerzverzerrtem Gesicht zurück.
»Du hast meinen Mantel ruiniert«, sie zeigte auf einen Riss im schwarz-weiß-karierten Stoff. »Das ist Fünfzigerjahre Vintage! Weißt du, was ich dafür bezahlt habe?«
»Ich habe gerade dein Leben gerettet!«
»Was passieren soll, passiert«, sagte sie pampig, hob ihre Handtasche auf und humpelte in Richtung des Ateliers davon.
Roberts Nacken gab Signale, dass er weitere Aktionen dieser Art nicht tolerieren würde, und forderte zum Ausgleich einen ordentlichen Schluck Tramadol . Robert setzte sich auf eine Bank und bog den Kopf vorsichtig zurück, um das Medikament eintropfen zu lassen. Sie waren schön und wie gemalt, diese riesigen sattgrünen Äpfel, die er dort oben in Herden über den Himmel ziehen sah. Eine eigenartige Naturerscheinung. Je länger er hinaufschaute, umso stärker erfasste ihn ein übles Schwindelgefühl.
»Ich möchte nicht, dass irgendwer noch einmal über mein Leben bestimmt«, sagte Anouk, als Robert endlich das Atelier betrat, ohne ihn anzuschauen und beinahe gleichgültig. »Selbst und gerade dann, wenn derjenige es gut mit mir meint.«
»Was hast du eigentlich drüben bei Limbs gemacht?«, fragte Robert, der jetzt wieder das Misstrauen in sich aufsteigen spürte, das ihn vor Anouks Kamikazetour erfasst hatte.
»Was geht …«, setzte Anouk an, brach dann aber ab, um in ziemlich ironischem Ton zu antworten. »Debriek scheint dir nicht zu vertrauen. Er wollte von mir wissen, ob mir irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen sei und ob du zuverlässig seist.«
»Er hat dich wirklich auf mich angesetzt?«
»Bin ich Mata Hari?«
»Warum nicht?«
»Er wollte mich aushorchen. Was hat das mit mir zu tun?«, sagte sie mit unterdrücktem Zorn.
»Nichts, aber deine Antworten haben mit dir zu tun«, gab Robert ärgerlich zurück.
»Ja, und darum habe ich auch ganz brav das Loblied auf meinen deutschen Kollegen gesungen. Einer von der guten, alten, verlässlichen Störleim-Schule.« Sie kicherte plötzlich wie ein kleines Mädchen. Robert verwirrten diese blitzartigen Gefühlswechsel jedes Mal aufs Neue.
»Aber bevor ich weitere Geheimnisse ausplaudern konnte, musste er weg«, fuhr sie fort. »Sie haben ihm einen Anruf durchgestellt, obwohl er extra gesagt hatte, er wolle nicht gestört werden. Er sagte nur ein paarmal Ja und Nein und dass er sofort komme, alles auf Englisch. Und dann komplimentierte er mich hinaus, ich solle mich melden, falls hier irgendetwas Ungewöhnliches geschehen sollte.«
Robert schwieg.
»Das war alles. Ich schwöre. Bin ich jetzt ein Doppelspion?«, fragte sie mit treuherzigem Augenaufschlag, ehe sie wieder loskicherte.
Sie hatten einen guten Lauf. Anouk arbeitete sowieso extrem schnell und präzise, während Robert die langjährige
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