Höhenangst
ist. Sie ist über Adele nie hinweggekommen … Und dann Toms Tod.«
Ich beugte mich vor und legte eine Hand auf die von Mrs. Blanchard. »Es tut mir so leid«, sagte ich. »Das alles muß so schrecklich für Sie gewesen sein. Eine Katastrophe nach der anderen.« Ich brauchte mehr Informationen. »Wann ist denn das passiert?«
»Tom?«
»Adele.«
Mrs. Blanchard lächelte traurig.
»Ich nehme an, für andere Menschen ist es schon eine Ewigkeit her. Januar 1990. Lange Zeit habe ich die Tage gezählt.«
»Ich habe Adele nie kennengelernt«, sagte ich. Das war wahrscheinlich der erste wahre Satz, den ich Mrs.
Blanchard gegenüber geäußert hatte. »Aber ich glaube, ich kenne – oder besser gesagt, kannte –«, korrigierte ich mich vorsichtig, »– ein paar von ihren Bergsteigerfreunden. Deborah, Daniel, Adam … wie auch immer er mit Nachnamen heißt.«
»Tallis?«
»Ich glaube schon«, sagte ich. »Es ist so lange her.«
»Ja, Tom ist oft mit ihm geklettert. Aber wir kannten ihn schon, als er noch ein Junge war. Wir waren mit seinen Eltern befreundet. Vor langer Zeit.«
»Wirklich?«
»Er ist inzwischen ziemlich berühmt. Er hat ein paar Leuten auf einem Berg das Leben gerettet, und die Zeitungen haben über ihn berichtet.«
»Tatsächlich? Das habe ich gar nicht mitbekommen.«
»Er kann es Ihnen selbst erzählen. Er kommt heute nachmittag zum Tee.«
Mit fast wissenschaftlichem Interesse sah ich mir selbst dabei zu, wie ich mich mit ernster Miene vorbeugte, obwohl ich gleichzeitig das Gefühl hatte, daß sich der glänzende Holzboden auf mich zubewegte. Mir blieben nur ein paar Sekunden, um mir etwas einfallen zu lassen.
Oder sollte ich mich einfach entspannen und dem Schicksal seinen Lauf lassen? Irgendwo tief in meinem Innern hatte ein Rest meines Verstandes überlebt und kämpfte weiter ums Überleben.
»Das wäre wunderbar«, hörte ich mich sagen. »Leider muß ich zurück. Ich fürchte, es wird wirklich Zeit zu gehen. Vielen Dank für den Tee.«
»Aber Sie sind doch gerade erst gekommen!«
protestierte Mrs. Blanchard. »Bevor Sie gehen, muß ich Ihnen unbedingt noch etwas zeigen. Ich habe Taras Sachen durchsortiert, und ich dachte mir, Sie möchten vielleicht ihr Fotoalbum sehen.«
Ich betrachtete ihr trauriges Gesicht.
»Natürlich, Jean, das würde ich sehr gern.« Ich warf einen schnellen Blick auf meine Uhr. Es war fünf nach halb drei. Die Züge trafen zu jeder vollen Stunde in Corrick ein, und ich hatte vom Bahnhof bis hierher zehn Minuten gebraucht, so daß Adam frühestens um zehn nach drei hier sein konnte. Oder würde er mit dem Auto kommen? Das hielt ich für sehr unwahrscheinlich.
»Wissen Sie, wann der Zug zurück nach Birmingham geht?« fragte ich Mrs. Blanchard, die gerade mit dem Fotoalbum unter dem Arm zurückkam.
»Ja, jeweils um vier nach …« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr.
»Der nächste geht um vier nach drei.«
»Dann habe ich ja noch eine Menge Zeit«, sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln.
»Noch eine Tasse Tee?«
»Nein, danke«, antwortete ich. »Aber ich würde wirklich gern die Fotos sehen. Wenn Sie es ertragen können.«
»Natürlich, meine Liebe.«
Sie zog ihren Stuhl näher heran. Während sie redete, stellte ich im Kopf Berechnungen an. Wenn ich um Viertel vor drei ging, würde ich es bis zum Bahnhof schaffen, bevor Adam eintraf – falls er überhaupt schon um drei kam. Auf der anderen Bahnsteigseite würde ich schon etwas finden, wo ich mich verstecken konnte.
Mrs. Blanchard würde erwähnen, daß gerade eine Frau dagewesen sei, die ihn kenne, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, irgend etwas gesagt zu haben, das Rückschlüsse auf meine wahre Identität zuließ. Adam würde glauben, es wäre eine von den Dutzenden oder Hunderten von Mädchen aus seiner Vergangenheit gewesen.
Und wenn ich mich verrechnet hatte? Was würde passieren, wenn Adam auftauchte, während ich noch hier war? Ich unternahm ein paar klägliche Versuche, mir zu überlegen, was ich dann sagen würde, verwarf aber sogleich jeden meiner Einfälle als katastrophal. Ich brauchte schon meine ganze Konzentration, um aufrecht sitzen zu bleiben und hin und wieder etwas zu äußern.
Bisher hatte ich von Tara Blanchard nur gewußt, daß ihre Leiche im Osten Londons in einem Kanal gefunden worden war. Nun sah ich sie als pausbäckiges Kleinkind im Sandkasten ihres Kindergartens. Mit Zöpfen und Blazer. In Badeanzügen und Partykleidern. Oft war auch Adele zu sehen. Als
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