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Höhenangst

Titel: Höhenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Kind wirkte sie pummelig und mürrisch, aber dann entwickelte sie sich zu einer langbeinigen Schönheit. Was Frauen betraf, war Adam seinem Geschmack immer treu geblieben, das mußte man ihm lassen. Aber es dauerte alles viel zu lang. Immer wieder sah ich auf die Uhr. Um achtzehn vor drei schienen wir erst die Hälfte des Albums geschafft zu haben. Dann legte Mrs. Blanchard auch noch eine Pause ein, um mir eine Geschichte zu erzählen, von der ich vor lauter Panik kein Wort mitbekam. Ich tat so, als würden mich die Fotos so sehr interessieren, daß ich weiterblättern mußte, um zu sehen, was als nächstes kam. Viertel vor drei. Wir waren noch immer nicht durch. Noch dreizehn Minuten.
    »Das ist Adam«, sagte Mrs. Blanchard.
    Ich zwang mich hinzusehen. Er sah fast genauso aus wie der Adam, den ich kannte. Seine Haare waren etwas länger, und er war unrasiert. Lächelnd stand er neben Adele, Tara, Tom und ein paar anderen, die ich nicht kannte. Vergeblich versuchte ich, auf dem Foto einen Hinweis darauf zu entdecken, daß er und Adele ein Liebespaar waren. Ich schüttelte den Kopf.
    »Nein«, sagte ich. »Ich muß ihn mit jemand anderem verwechselt haben.«
    Vielleicht würde Mrs.
    Blanchard nun sogar darauf
    verzichten, mich Adam gegenüber zu erwähnen. Aber ich konnte mich nicht darauf verlassen. Zehn vor. Mit Erleichterung sah ich, daß Mrs. Blanchard bei einer leeren Seite angelangt war. Das Album war nicht voll. Nun mußte ich mich aber beeilen. Ich griff nach ihrer Hand.
    »Jean, das war …« Ich hielt inne, als würde ich von meinen Gefühlen so sehr übermannt, daß ich nicht weitersprechen konnte. »Jetzt muß ich aber wirklich gehen.«
    »Ich fahre Sie zum Bahnhof«, bot sie an.
    »Nein«, antwortete ich, wobei ich mich bemühen mußte, nicht zu schreien. »Der kleine Spaziergang wird mir guttun. Nach all dem muß ich ein bißchen allein sein.«
    Sie umarmte mich.
    »Besuchen Sie mich mal wieder, Sylvie«, sagte sie.
    Ich nickte, und Sekunden später war ich draußen. Aber das alles hatte viel zu lang gedauert. Inzwischen war es sechs Minuten vor drei. Ich überlegte, ob ich in die andere Richtung gehen sollte, verwarf diese Idee aber sofort wieder. Sobald ich von der Auffahrt auf die Straße getreten war, begann ich zu laufen. Mein Körper war darauf nicht vorbereitet. Schon nach hundert Metern rang ich keuchend nach Luft und spürte ein scharfes Stechen in der Brust. Ich bog um eine Ecke und sah den Bahnhof vor mir liegen, noch viel zu weit entfernt. Ich zwang mich weiterzurennen, aber als ich den Parkplatz erreichte, auf dem die vielen Pendler ihre Autos abgestellt hatten, fuhr ein Zug ein. Ich durfte nicht riskieren, den Bahnhof zu betreten und Adam in die Arme zu laufen. Voller Panik blickte ich mich um. Es gab nichts, wo ich mich hätte verstecken können. Das einzige, was ich entdeckte, war eine Telefonzelle, und in meiner Verzweiflung lief ich hinein und griff nach dem Hörer. Obwohl ich dem Bahnhof den Rücken zukehrte, stand ich direkt neben dem Eingang. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Eine Minute nach drei. Ich hörte, wie der Zug den Bahnhof verließ. In ein, zwei Minuten würde der meine eintreffen. Was, wenn Adam aus dem Bahnhof kam und telefonieren wollte?
    Wahrscheinlich machte ich mich völlig zum Narren.
    Plötzlich war ich sicher, daß Adam gar nicht in dem Zug gewesen war. Ich konnte der Versuchung, mich umzudrehen, fast nicht widerstehen. Mehrere Leute kamen aus dem Bahnhof und gingen über den kiesbedeckten Vorplatz. Hinter mir blieb jemand stehen. In der Glasscheibe vor mir sah ich das bruchstückhafte Spiegelbild einer einzelnen Person, die vor der Telefonzelle wartete. Ich konnte keine Details erkennen.
    Jemand klopfte gegen die Tür. Ich machte mir klar, daß ich so tun mußte, als würde ich telefonieren, und sprach ein paar sinnlose Sätze in den Hörer. Vorsichtig drehte ich mich ein kleines Stück um. Da war er. Er war ein wenig schicker gekleidet als sonst. Ob er zu seinem Jackett eine Krawatte trug, konnte ich nicht sehen, weil er die Telefonzelle bereits passiert hatte. Auf dem Parkplatz hielt er eine alte Frau auf und sagte etwas zu ihr. Sie blickte sich um und deutete die Straße hinauf. Er setzte sich in Bewegung.
    Ich hörte einen anderen Zug einfahren. Meinen. Zu meinem großen Entsetzen fiel mir ein, daß mein Zug vom gegenüberliegenden Bahnsteig abfuhr. Ich würde über eine Brücke laufen müssen. Dreh dich nicht um, Adam, dreh dich nicht um. Ich legte auf und

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