Höhenangst
er so vertrauensvoll, daß ich es nicht mehr länger aushielt, neben ihm zu liegen. Ich griff nach den erstbesten Kleidungsstücken – einer schwarzen Hose, Stiefeletten, einem orangefarbenen Rollkragenpullover, der an den Ellbogen bereits dünn wurde – und zog mich im Bad an. Ich machte mir nicht die Mühe, mir die Zähne zu putzen oder mich zu waschen.
Das konnte ich alles später tun. Ich mußte hier einfach raus, um mit meinen Gedanken allein und nicht dazusein, wenn er aufwachte und mich zu sich hinunterziehen wollte. Als ich die Wohnung verließ, fiel die Tür hinter mir so laut in Schloß, daß ich nervös zusammenzuckte.
Ich wußte nicht, wo ich eigentlich hinwollte, und ging ohne Jacke mit weit ausholenden Schritten die Straße entlang. Dabei saugte ich die kalte Luft tief in meine Lungen ein. Nun, da es hell war, fühlte ich mich ruhiger.
Ich würde schon irgendwie klarkommen. In einem Café in der Nähe von Shepherd’s Bush machte ich halt und trank eine Tasse ungesüßten schwarzen Kaffee. Der Geruch nach Fett und Speck verursachte mir leichte Übelkeit. Es war kurz vor sieben, und in den Straßen staute sich bereits der Verkehr. Als ich das Lokal verließ, mußte ich an die Anweisungen denken, die Adam mir damals bei unserer Wanderung im Lake District gegeben hatte. Sieh zu, daß du einen Rhythmus findest. Immer schön einen Fuß vor den anderen setzen. Atme gleichmäßig und schau nie zu weit nach vorn. Irgendwann dachte ich an gar nichts mehr, sondern ging nur noch. Die Zeitungsläden waren schon offen, ebenso ein paar von den Lebensmittelgeschäften.
Nach einer Weile wurde mir klar, wohin mich meine Füße trugen, aber ich blieb trotzdem nicht stehen, auch wenn sich meine Schritte immer mehr verlangsamten. Vielleicht war das gar keine so schlechte Idee. Ich mußte mit jemandem reden, und es waren nur noch wenige Leute übrig, mit denen ich das konnte.
Um zehn nach acht war ich da. Nachdem ich fest gegen die Tür geklopft hatte, fühlte ich mich plötzlich schrecklich nervös, aber es war zu spät, um noch wegzulaufen. Ich hörte Schritte – und dann stand er vor mir.
»Alice.«
Er wirkte nicht besonders überrascht, aber auch nicht besonders erfreut, mich zu sehen. Er bat mich nicht ins Haus.
»Hallo, Jake.«
Wir starrten uns an. Als wir uns das letztemal begegnet waren, hatte ich ihn beschuldigt, Spinnen in meine Milchflasche getan zu haben. Er befand sich noch im Bademantel, aber es war einer, den ich nicht kannte, ein Bademantel aus der Nach-Alice-Ära.
»Warst du gerade in der Gegend?« fragte er mit einer Spur seiner alten Ironie.
»Kann ich reinkommen? Nur für eine Minute.«
Er zog die Tür weiter auf und trat einen Schritt zurück.
»Hier sieht es ja ganz anders aus«, sagte ich und blickte mich um.
»Was hast du denn erwartet?«
Das Sofa und die Vorhänge waren neu, und auf dem Boden vor dem Kamin lagen große neue Kissen. An den Wänden (inzwischen grün gestrichen, nicht mehr cremefarben) hingen ein paar Bilder, die ich ebenfalls nicht kannte. Die alten Fotos von ihm und mir waren verschwunden.
Ich hatte nicht wirklich darüber nachgedacht, was mich bei Jake erwarten würde. Jetzt aber wurde mir klar, daß ich irgendwie damit gerechnet hatte, bei meiner Rückkehr in mein altes, verschmähtes Zuhause festzustellen, daß es auf mich gewartet hatte, auch wenn ich Jake damals mit grausamer Deutlichkeit zu verstehen gegeben hatte, daß ich nie zurückkommen würde. Und wenn ich mir selbst gegenüber ehrlich war, mußte ich mir eingestehen, daß ich wahrscheinlich auch damit gerechnet hatte, daß Jake trotz allem, was ich ihm angetan hatte, auf mich warten würde.
Daß er den Arm um mich legen und mich auf einen Stuhl drücken würde. Daß er Tee und Toast für mich machen und sich meine Eheprobleme anhören würde.
»Es hat keinen Sinn«, sagte ich schließlich.
»Darf ich dir eine Tasse Kaffee anbieten, nachdem du schon mal da bist?«
»Nein, danke. Oder doch, ja.«
Ich folgte ihm in die Küche: ein neuer Wasserkessel, ein neuer Toaster, neue Tassen an neuen Haken, viele frische Pflanzen auf dem Fensterbrett. Blumen auf dem Tisch. Ich ließ mich am Küchentisch nieder.
»Bist du gekommen, um den Rest deiner Sachen abzuholen?« fragte er.
Ich wußte jetzt, daß es sinnlos gewesen war herzukommen. Letzte Nacht war mir der seltsame Gedanke durch den Kopf gegangen, daß mir Jake irgendwie erhalten bleiben würde, auch wenn ich jemand anderen verloren hatte.
»Ich stehe
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