Höhenangst
Everest ohne Sauerstoff, In luftiger Höhe, Angeseilt, Der dritte Pol, A-Z für Bergsteiger, Erste Hilfe für Kletterer, Mit dem Kopf in den Wolken, Ein Gottesgeschenk, Auf den Gipfeln der Welt, Die Auswirkungen der Höhe, K2: eine Tragödie, K2: Der schreckliche Sommer, Sie kletterten um ihr Leben, Am Rand, Der Abgrund …
Ich zog aufs Geratewohl ein paar Bände heraus und sah im Index unter T nach. Da war er, in Auf den Gipfeln der Welt,
einem exklusiven Bildband über
Himalajabesteigungen. Schon allein der Anblick seines gedruckten Namens verursachte mir eine Gänsehaut und ein leichtes Gefühl von Übelkeit. Es war, als wäre es mir bis dahin gelungen, so zu tun, als würde er außerhalb jenes Zimmers in Soho nicht existieren, als hätte er nur das Leben, das er mit mir verbrachte, die Zeit, die er auf mich verwandte. Die Tatsache, daß er als Bergsteiger einen Beruf ausübte, über den ich nichts wußte, hatte es mir leichter gemacht, ihn als eine Art Phantasiegestalt zu betrachten: ein reines Objekt der Begierde, das nur existierte, wenn ich bei ihm war. Aber sein Name stand schwarz auf weiß in diesem Buch. Tallis, Adam, Seiten 12-14, 89-92, 168.
Ich blätterte zu den Farbfotos in der Mitte des Buches und starrte auf das dritte Bild, auf dem eine Gruppe von Männern und Frauen in Nylon- oder Vliesjacken vor einem Hintergrund aus Schnee und Geröll in die Kamera lächelten. Er lächelte als einziger nicht, sondern hatte den Blick in die Ferne gerichtet. Damals kannte er mich noch nicht. Ich spielte in seinem Leben noch keine Rolle.
Wahrscheinlich liebte er zu dem Zeitpunkt eine andere, auch wenn wir nie über andere Frauen gesprochen hatten.
Er wirkte jünger, weniger traurig. Sein Haar war kürzer und stärker gelockt. Ich blätterte weiter und stieß auf ein Foto von ihm allein. Auch hier blickte er nicht in die Kamera. Da er eine Sonnenbrille trug, waren weder sein Gesichtsausdruck noch seine Blickrichtung zu erkennen.
Hinter ihm in der Ferne war ein kleines grünes Zelt zu sehen und dahinter ein steil abfallender Berg. Er trug schwere Bergstiefel, und das Haar war vom Wind zerzaust. Ich fand, daß er bekümmert wirkte, und obwohl es lange vor meiner Zeit und in einer anderen Welt war, empfand ich ein starkes Verlangen, ihn zu trösten. Dieses neu erwachte Verlangen war so schmerzhaft, daß es mir den Atem raubte.
Ich klappte das Buch zu und stellte es zurück ins Regal.
Ich nahm ein anderes heraus und warf einen Blick in das Register. Kein Tallis zu finden.
»Tut mir leid, wir schließen jetzt.« Der junge Mann tauchte wieder auf. »Möchten Sie etwas kaufen?«
»Entschuldigen Sie, mir war nicht klar, daß es schon so spät ist. Nein, ich glaube nicht.«
Ich schaffte es bis zur Tür. Weiter kam ich nicht. Ich machte kehrt, griff nach Auf den Gipfeln der Welt und ging mit dem Buch zur Kasse.
»Reicht die Zeit noch für das hier?«
»Natürlich.«
Ich bezahlte und steckte das Buch in meine Tasche.
Vorsichtig wickelte ich es in mein neues blaues Shirt, bis fast nichts mehr davon zu sehen war.
7. KAPITEL
»So ist es gut, zieh die linke Leine ein bißchen nach unten, aber paß auf, daß sie nicht mit der anderen kollidiert! Na, macht das nicht Spaß?«
In jeder Hand hielt ich eine Spule mit einer Leine, die bei jeder Windbö zuckte und sich ein Stück weiter ab-rollte. Der Drachen – das Geschenk, das Jake mir aus Edinburgh mitgebracht hatte – vollführte über unseren Köpfen gerade einen Sturzflug. Es war ein ziemlich protziger, rot-gelber Kunstflugdrachen mit einer langen Schnur.
»Paß auf, Alice, er kracht sonst auf den Boden! Zieh an!«
Jake trug eine alberne Bommelmütze. Seine Nase war von der Kälte gerötet. Er sah aus wie sechzehn und wirkte so glücklich wie ein kleiner Junge bei einem Ausflug. Ich zog aufs Geratewohl an beiden Leinen, woraufhin sich der Drachen drehte und abzustürzen drohte. Die Leinen hingen durch, und er krachte mit voller Wucht zu Boden.
»Bleib, wo du bist! Ich hole ihn!« rief Jake.
Er rannte den Hügel hinunter, hob den Drachen auf, ging damit ein Stück, bis die Leinen wieder straff gespannt waren, und ließ ihn dann ein weiteres Mal steigen. Ich überlegte, ob ich Jake sagen sollte, daß meiner Meinung nach die kurzen Phasen, in denen der Drachen in der Luft war, nicht die Zeit aufwogen, die er im Gras lag und in der man mit klammen Fingern die Leinen entwirren mußte.
Ich beschloß, mir die Bemerkung zu verkneifen.
»Wenn es schneit«, sagte
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