Höhenangst
Jake, nachdem er keuchend zu mir zurückgekehrt war, »können wir rodeln gehen.«
»Was ist denn in dich gefahren? So energiegeladen kenn’ ich dich ja gar nicht!«
Er trat hinter mich und schlang die Arme um mich. Ich konzentrierte mich auf den Drachen.
»Wir könnten unser großes Küchentablett dafür nehmen«, meinte er. »Oder einfach große Müllsäcke. Oder wir kaufen uns einen Schlitten. So ein Ding kostet nicht viel, und man hat es ewig.«
»Bis dahin bin ich längst verhungert«, antwortete ich.
»Außerdem kann ich meine Finger schon nicht mehr spüren.«
»Gib her.« Er nahm mir den Drachen ab. »In meiner Jackentasche stecken Handschuhe. Zieh sie an. Wie spät ist es?«
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. »Fast schon drei. Bald wird es dunkel.«
»Laß uns Pfannkuchen essen. Ich liebe Pfannkuchen.«
»Wirklich?«
»Es gibt vieles, was du noch nicht über mich weißt.« Er fing an, die Drachenleinen aufzurollen. »Hast du beispielsweise gewußt, daß ich mit fünfzehn schrecklich in ein Mädchen namens Alice verliebt war? Sie war eine Klasse über mir, und für sie war ich natürlich nur ein pickliger Knabe. Ich litt Höllenqualen.« Er lachte. »Ich möchte um nichts in der Welt noch mal jung sein. Wieviel Kummer man in dem Alter hat! Ich konnte es kaum erwarten, erwachsen zu werden.«
Er kniete sich auf den Boden, faltete den Drachen vorsichtig zusammen und packte ihn in seine schmale Nylontasche. Ich erwiderte nichts. Lächelnd blickte er zu mir auf. »Natürlich hat man als Erwachsener auch seine Probleme. Aber zumindest fühlt man sich nicht mehr ständig so linkisch und unsicher.«
Ich kauerte mich neben ihn. »Was hast du denn zur Zeit für Probleme, Jake?«
»Zur Zeit?« Er zog die Stirn in Falten und sah mich überrascht an. »Eigentlich keine.« Er legte seine Arme so ungestüm auf meine Schultern, daß ich fast das Gleichgewicht verlor. Ich küßte seine kalte Nasenspitze.
»Als ich noch mit Ari zusammen war, hatte ich das Gefühl, ständig beurteilt zu werden und nie ihren Ansprüchen zu genügen. Bei dir habe ich dieses Gefühl noch nie gehabt. Du sagst, was du denkst. Du kannst zwar auch ganz schön sauer werden, aber du versuchst nie, mich zu manipulieren. Bei dir weiß ich, woran ich bin.«
Ari war seine Exfreundin, eine große, grobknochige Frau mit rotbraunem Haar, die Schuhe entwarf, die meiner Meinung nach aussahen wie Blätterteig mit Fleischfüllung. Sie hatte Jake wegen eines Mannes verlassen, der für eine Ölfirma arbeitete und einen Großteil des Jahres im Ausland verbrachte.
»Und wie steht’s mit dir?«
»Was?«
»Was sind deine Erwachsenenprobleme?«
Ich stand auf und zog ihn hoch.
»Laß mich mal nachdenken. Ein Job, der mich wahnsinnig macht. Eine Phobie vor Fliegen, Ameisen und allem anderen Krabbelgetier. Und eine schlechte Durchblutung. Jetzt aber los, ich bin am Erfrieren!«
Wir aßen tatsächlich Pfannkuchen, schreckliche, plastikartige Dinger, die vor Fett nur so trieften. Am frühen Abend gingen wir ins Kino. Der Film hatte einen traurigen Schluß, der es mir erlaubte, ein bißchen zu weinen. Zur Abwechslung trafen wir uns mal nicht mit den anderen auf einen Drink im Vine oder beim Inder, sondern gingen allein zu einem billigen Italiener in der Nähe unserer Wohnung, wo wir Spaghetti aßen und einen trockenen Rotwein tranken. Jake war in nostalgischer Stimmung. Er redete noch eine Weile über Ari und die Frauen vor ihr. Dann kauten wir erneut das Thema »Wie wir uns kennenlernten« durch – die schönste Geschichte jedes glücklichen Paars. Keiner von uns konnte sich daran erinnern, wann wir uns zum erstenmal begegnet waren.
»Es heißt, die ersten paar Sekunden in einer Beziehung sind die wichtigsten«, sagte Jake. Ich mußte daran denken, wie Adam mich mit seinen blauen Augen quer über die Straße fixiert hatte.
»Laß uns nach Hause gehen.«
Ich stand abrupt auf.
»Willst du nicht noch einen Kaffee?«
»Wir können uns zu Hause einen machen.«
Er faßte es als sexuelle Einladung auf, was es in gewisser Weise auch war. Ich wollte mich irgendwo verstecken, und wo ging das besser als im Bett, in seinen Armen, mit geschlossenen Augen in der Dunkelheit, wo mir niemand Fragen stellte oder Geständnisse von mir verlangte? Jake und ich kannten uns so gut, daß unser Sex fast etwas Anonymes hatte: nacktes Fleisch auf nacktem Fleisch.
»Was ist denn das?« fragte er, als wir hinterher naßge-schwitzt nebeneinanderlagen. Er hielt Auf
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