Höhenangst
oder ob ihre lauten Worte jemandem in dem Raum hinter der Rezeption galten. Ich fragte mich, ob sie mich wohl für eine Prostituierte hielt, aber eine solche Frau wäre bestimmt nicht so schlecht – oder zumindest nicht so bieder –
gekleidet gewesen wie ich. Aber ich hatte kein Gepäck bei mir. Ein kleiner Winkel meines Gehirns fand es amüsant, daß sie mich vielleicht falsch einschätzte. Ich zog eine Kreditkarte aus der Tasche und legte sie auf die Theke. Sie nahm die Karte und unterzog sie einer eingehenden Prüfung. Dann hielt sie mir ein Blatt Papier hin, das ich unterschrieb, ohne es mir genauer anzusehen. Sie reichte mir einen Schlüssel.
»Kann ich etwas zu trinken bekommen?« fragte ich.
»Eine Tasse Tee vielleicht?«
»Hier gibt es nichts zu trinken!« schrie sie mich an.
Ich kam mir vor, als hätte ich sie um eine Flasche Fusel gebeten. Ich überlegte, ob ich noch einmal losziehen sollte, um mir etwas zu besorgen, fühlte mich der Aufgabe aber nicht gewachsen. Ich nahm den Schlüssel und ging die zwei Treppen zu meinem Zimmer hinauf. Es war gar nicht so schlecht, wie ich befürchtet hatte, und besaß ein Waschbecken und ein Fenster mit Blick auf einen gepflasterten Hinterhof und die Rückseite eines anderen Hauses. Ich zog den Vorhang zu. Hier saß ich nun, ganz allein und ohne Gepäck in einem Londoner Hotelzimmer.
Ich zog mich bis auf die Unterwäsche aus und legte mich ins Bett. Ein paar Augenblicke später stand ich wieder auf, schloß die Tür ab und kroch erneut unter die Decke. Ich brach nicht in Tränen aus. Ich lag auch nicht die ganze Nacht wach und dachte über mein Leben nach. Ich schlief sofort ein. Aber ich ließ das Licht brennen.
Als ich aufwachte, war es schon spät. Ich fühlte mich benommen, aber nicht selbstmordgefährdet. Ich stand auf, zog meinen BH und meinen Slip aus und wusch mich am Waschbecken. Dann putzte ich mir ohne Zahnpasta die Zähne. Zum Frühstück nahm ich eine Antibabypille, die ich mit einem Plastikbecher voll Wasser hinunterspülte.
Anschließend zog ich mich an und ging hinunter. Die Rezeption war nicht besetzt, und auch sonst war niemand zu sehen. Ich spähte in einen Speisesaal mit einem glänzenden, marmorartigen Boden, in dem auf sämtlichen Tischen Plastikstühle standen. Irgendwo waren Stimmen zu hören, und es roch nach gebratenem Schinken. Ich durchquerte den Raum und schob einen Vorhang zur Seite. An einem Küchentisch saßen die Frau vom Vorabend, ein Mann ihres Alters und Umfangs, offensichtlich ihr Ehemann, und mehrere fette kleine Kinder. Sie alle richteten den Blick auf mich.
»Ich wollte mich bloß verabschieden«, sagte ich.
»Möchten Sie etwas zum Frühstück?« fragte der Mann lächelnd. »Wir haben Eier, Fleisch, Tomaten, Pilze, Bohnen und Müsli.«
Ich schüttelte schwach den Kopf.
»Sie haben dafür bezahlt. Trinken Sie wenigstens eine Tasse Kaffee.«
Den Kaffee nahm ich dankend an. Ich trank ihn im Stehen und sah von der Küchentür aus zu, wie sie die Kinder für die Schule fertig machten. Bevor ich ging, betrachtete mich der Mann mit besorgter Miene.
»Alles klar bei Ihnen?«
»Ja, danke.«
»Bleiben Sie noch eine Nacht?«
Ich schüttelte den Kopf und ging. Draußen war es kalt, aber wenigstens trocken. Ich blieb einen Moment stehen, um mich zu orientieren. Von hier aus konnte ich zu Fuß gehen. In einer Drogerie in der Edgware Road kaufte ich Papiertücher mit Zitronenduft, Zahnpasta, Wimperntusche und Lippenstift. Anschließend erstand ich in einem Wäschegeschäft einen einfachen weißen Slip. In der Oxford Street entdeckte ich einen Laden mit schlichter, zweckmäßiger Kleidung. Ich nahm ein schwarzes T-Shirt und eine einfache Jacke mit in die Umkleidekabine. Bevor ich in die Sachen schlüpfte, zog ich meinen neuen Slip an.
Dann rieb ich mir mit den Papiertüchern über Gesicht und Hals, bis meine Haut brannte, und legte anschließend ein wenig Make-up auf. Ich fühlte mich schon besser.
Zumindest sah ich nicht mehr aus wie eine wandelnde Leiche. Kurz nach zehn rief ich Claudia an. Ich hatte eigentlich vorgehabt, ihr eine Notlüge aufzutischen, aber irgendein seltsamer Impuls veranlaßte mich dazu, wenigstens bis zu einem gewissen Grad ehrlich zu ihr zu sein. Ich erklärte ihr, ich würde gerade eine schlimme persönliche Krise durchmachen und sei im Moment einfach nicht in der Verfassung, im Büro zu erscheinen.
Claudia war so besorgt um mich, daß ich es kaum schaffte, das Gespräch mit ihr zu beenden.
»Mir
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