Höhenangst
einer weiteren Besprechung teilgenommen, bei der ich, ohne viel gesagt zu haben, von Mike gelobt wurde, daß ich die Dinge so prägnant auf den Punkt gebracht hätte. »Du scheinst im Moment alles sehr gut im Griff zu haben, Alice«, hatte er nervös gemeint. Fast das gleiche Kompliment hatte mir Giovanna ein paar Stunden zuvor in einer E-Mail gemacht. Den Rest des Tages verbrachte ich damit, die Akten auf meinem Schreibtisch durchzusehen. Das meiste davon warf ich in den Papierkorb. Ich hatte Claudia gebeten, keine Anrufe durchzustellen. Kurz nach halb sechs ging ich mich ein wenig frischmachen. Ich bürstete mein Haar, wusch mir das Gesicht, tupfte etwas Farbe auf meine wunden Lippen und knöpfte meinen Mantel bis obenhin zu, so daß keine Spur von meinen neuen, schicken Klamotten zu sehen war. Dann fuhr ich meine alte, vertraute Strecke zurück zur Wohnung.
Ich war früh dran und machte noch einen kleinen Spaziergang. Ich wollte bei Jake nicht auftauchen, bevor er für mich bereit war, und ich wollte ihm auf keinen Fall auf der Straße in die Arme laufen. Ich überlegte, was ich zu ihm sagen sollte. Mein Entschluß, mich von ihm zu trennen, hatte ihn schlagartig in einen Fremden verwandelt, der mir anspruchsvoller und verletzlicher erschien als der ironische, bescheidene Jake, mit dem ich gelebt hatte. Kurz nach halb sieben drückte ich auf die Klingel. Jemand kam die Treppe herunter und ging auf die Tür zu.
»Hallo, Alice.«
Es war Pauline.
»Pauline.« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Meine beste Freundin. Der Mensch, an den ich mich in jeder anderen Situation als erstes gewandt hätte. Nun stand sie mir im Türrahmen gegenüber. Ihr dunkles Haar war zu einem strengen Knoten hochgesteckt. Sie hatte leichte Augenringe und wirkte müde. Ihr Blick war ernst, sie lächelte nicht. Plötzlich kam es mir vor, als hätten wir uns schon Monate nicht mehr gesehen und nicht bloß ein paar Tage.
»Darf ich reinkommen?«
Sie trat beiseite, und ich ging an ihr vorbei die Treppe hinauf. In der Wohnung schien sich nichts verändert zu haben. Was hatte ich erwartet? Meine Jacken und Schals hingen noch immer an den Haken in der Diele. Das Foto, auf dem Jake und ich uns – im Arm hielten und breit grinsten, stand noch immer auf dem Kaminsims. Meine roten Mokassinpantoffeln lagen neben dem Sofa auf dem Wohnzimmerboden, dort, wo wir am Sonntag gesessen hatten. Die Narzissen, die ich Ende letzter Woche gekauft hatte, standen noch immer in der Vase, auch wenn sie inzwischen die Köpfe ein wenig hängen ließen. Auf dem Tisch stand eine halbvolle Tasse Tee. Ich war sicher, daß es dieselbe Tasse war, aus der ich vor zwei Tagen getrunken hatte. Verwirrt ließ ich mich aufs Sofa fallen.
Pauline blieb stehen und blickte mit ernster Miene auf mich herunter. Sie hatte noch kein Wort gesagt.
»Pauline«, krächzte ich. »Ich weiß, daß das, was ich getan habe, schrecklich ist, aber ich konnte nicht anders.«
»Erwartest du jetzt, daß ich dir verzeihe?« fragte sie.
Der Ton ihrer Stimme klang vernichtend.
»Nein.« Das war eine Lüge, natürlich hoffte ich, daß sie mir verzeihen würde. »Nein, aber du bist meine beste Freundin. Ich möchte nicht, daß du denkst, ich sei, na ja, kalt oder herzlos. Es gibt nichts, was ich zu meiner Verteidigung sagen könnte, außer daß ich mich verliebt habe. Ich bin sicher, daß du das verstehen kannst.«
Ich sah, wie sie zusammenzuckte. Natürlich konnte sie das verstehen. Vor achtzehn Monaten war sie ebenfalls von ihrem Partner verlassen worden, weil er sich neu verliebt hatte. Sie setzte sich ans andere Ende des Sofas, so weit von mir entfernt wie möglich.
»Die Sache ist die, Alice«, begann sie, und mir fiel auf, daß sogar unsere Art, miteinander zu reden, anders geworden war, irgendwie formeller und pedantischer.
»Wenn ich wollte, könnte ich dich natürlich verstehen.
Schließlich seid ihr nicht verheiratet und habt auch keine Kinder. Aber ich will dich gar nicht verstehen. Zumindest jetzt im Moment nicht. Er ist mein Bruder, und er ist tief verletzt worden.« Ihre Stimme schwankte, und ein paar Sekunden lang klang sie wie die Pauline, die ich kannte:
»Wirklich, Alice, wenn du ihn jetzt sehen könntest, wenn du sehen könntest, wie fertig er ist, dann würdest du nicht …« Aber sie sprach nicht weiter. »Vielleicht können wir eines Tages wieder Freundinnen sein, aber jetzt hätte ich irgendwie das Gefühl, ihn zu verraten, wenn ich mir deine Geschichte anhören und
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