Höhenangst
doch beide etwas früher aufhören und uns um Viertel vor sechs auf einen Kaffee oder Tee treffen. Sie kenne eine nettes Café in einer Seitenstraße der St. Martin’s Lane. Eigentlich paßte mir das gar nicht. Ich mußte eine geplante Konferenzschaltung verschieben, schaffte es auf diese Weise aber, um zwanzig vor sechs am vereinbarten Treffpunkt zu sein. Völlig außer Atem und sehr nervös betrat ich das Lokal. Sylvie saß bereits mit einer Tasse Kaffee und einer Zigarette an einem Ecktisch. Als sie mich sah, stand sie auf und umarmte mich.
»Ich bin froh, daß du mich angerufen hast«, sagte sie.
Wir setzten uns, und ich bestellte mir ebenfalls einen Kaffee.
»Ich bin froh, daß du froh darüber bist«, antwortete ich.
»Ich habe das Gefühl, alle enttäuscht zu haben.«
Sylvie sah mich an.
»Warum?«
Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich war gekommen, um mir Vorwürfe machen zu lassen und mich schuldig zu fühlen.
»Ich habe Jake sehr weh getan.«
Sylvie zündete sich eine weitere Zigarette an. Dabei lächelte sie fast.
»Ja, du hast Jake sehr weh getan.«
»Hast du ihn gesehen?«
»Ja.«
»Wie geht es ihm?«
»Er hat abgenommen. Und wieder zu rauchen angefangen. Manchmal ist er total still, und manchmal redet er so viel über dich, daß kein anderer zu Wort kommt. Er hat ziemlich nah am Wasser gebaut. Ist es das, was du hören willst? Aber glaub mir, er wird es überstehen. Die Zeit heilt alle Wunden. Er wird nicht den Rest seines Lebens unglücklich sein. Nur ganz wenige Leute sterben an gebrochenem Herzen.«
Ich nahm einen Schluck von meinem Kaffee. Er war noch so heiß, daß ich husten mußte.
»Ich hoffe, du hast recht. Es tut mir leid, Sylvie, aber ich fühle mich, als wäre ich gerade vom Mond gekommen.
Ich stehe völlig neben mir.«
Ein paar Augenblicke herrschte zwischen uns peinliches Schweigen.
»Wie geht es Clive?« stieß ich schließlich verlegen hervor.
»Und seiner neuen Freundin? Wie hieß sie noch mal?«
»Gail«, antwortete Sylvie. »Er ist sehr verliebt in sie. Sie ist wirklich nett, man kann eine Menge Spaß mit ihr haben.«
Wieder schwiegen wir beide. Sylvie sah mich nachdenklich an.
»Wie ist er?« fragte sie.
Ich spürte, wie ich rot wurde. Seltsamerweise widerstrebte es mir, von Adam zu erzählen. Mit einem schmerzhaften Gefühl, das ich nicht so recht einordnen konnte, wurde mir klar, daß sich alles, was Adam und mich betraf, bisher im verborgenen abgespielt hatte. Noch nie hatte ich mit einem anderen Menschen darüber gesprochen. Wir hatten nie gemeinsam eine Party besucht.
Es gab niemanden, der uns als Paar kannte. Nun aber hatte mir Sylvie diese Frage gestellt, zum einen, weil sie selbst neugierig war, zum anderen aber auch – da war ich ganz sicher –, weil sie von den anderen beauftragt worden war, mich ein wenig auszufragen und ihnen Informationen zu liefern, auf die sie sich dann gemeinsam stürzen konnten.
Am liebsten hätte ich das Ganze noch länger geheimgehalten. Ich wollte nicht zum Gesprächsthema anderer Leute werden. Allein schon der Gedanke an Adam und seinen Körper brachte mein Blut in Wallung. Plötzlich hatte ich Angst vor dem Alltag, der Routine – davor, Adam und Alice zu sein, die irgendwo zusammen wohnten, gemeinsam Dinge besaßen und miteinander unterwegs waren. Und zugleich wünschte ich mir genau das.
»Lieber Himmel«, begann ich. »Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll. Er heißt Adam und … na ja, er ist völlig anders als alle anderen Männer, die ich bisher kannte.«
»Ich weiß«, sagte Sylvie. »Am Anfang ist es immer wundervoll, nicht wahr?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein, so ist es nicht. Weißt du, in meinem Leben ist bisher alles mehr oder weniger nach Plan gelaufen. In der Schule war ich recht gut und auch ziemlich beliebt.
Zumindest hat mich nie jemand schikaniert oder so. Mit meinen Eltern habe ich mich auch gut verstanden.
Vielleicht nicht gerade blendend, aber doch gut. Und ich war immer mit netten Jungs befreundet. Manchmal habe ich sie verlassen, manchmal haben sie Schluß gemacht.
Nach dem College suchte ich mir dann einen Job, lernte Jake kennen, zog bei ihm ein und … Was habe ich all die Jahre eigentlich gemacht?«
Sylvies schön geschwungene Augenbrauen hoben sich.
Einen Moment lang wirkte sie wütend.
»Du hast dein Leben gelebt, genau wie wir anderen auch.«
»Oder bin ich bloß dahingeglitten, ohne die Dinge wirklich zu berühren? Ohne mich berühren zu lassen? Du brauchst mir
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