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Höhenangst

Titel: Höhenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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einer Schlacht erworbene Wunden. Er hatte mich gebadet, in zwei Handtücher gehüllt und die Hand auf meine Stirn gelegt.
    Er war so besorgt gewesen, so stolz auf mich, weil ich seinetwegen litt.
    Der Zug fuhr durch einen langen Tunnel, und ich sah im Fenster mein schmal gewordenes Gesicht: die geschwollenen Lippen, die Augenringe, das wirre Haar.
    Ich zog eine Bürste und einen Haargummi heraus und band mir das Haar streng zurück. Mir fiel ein, daß ich nicht mal ein Notizbuch oder einen Stift dabeihatte. Ich würde mir die Sachen kaufen, wenn ich dort war.
    Michelle Stowe öffnete die Tür mit einem Baby auf dem Arm. Es lag an ihrer Brust und trank. Die Augen in dem kleinen, runzeligen, roten Gesicht waren fest zusammengekniffen. Sein Mund sog gierig. Als ich ins Haus trat, verloren seine Lippen einen Moment lang den Kontakt mit der Brustwarze, und ich sah, wie das Kleine eine instinktive Bewegung machte. Sein Mund war weit geöffnet, und die winzigen Fäuste lösten sich und griffen in die Luft. Dann hatte es die Brustwarze gefunden und nahm sein rhythmisches Saugen wieder auf.
    »Ich stille ihn nur noch schnell fertig«, sagte sie.
    Sie führte mich in einen kleinen Raum mit einem braunen Sofa. Ein Heizstrahler glühte. Ich nahm auf dem Sofa Platz und wartete. Ich hörte, wie sie das leise wimmernde Baby mit sanfter Stimme beruhigte. Die ganze Wohnung roch nach Babypuder. Auf dem Kaminsims standen Fotos von dem Baby, auf denen es mal mit Michelle, mal mit einem dünnen, kahlköpfigen Mann zu sehen war.
    Michelle kam ohne das Baby zurück und setzte sich ans andere Ende des Sofas.
    »Möchten Sie etwas trinken? Vielleicht eine Tasse Tee?«
    »Nein, danke.«
    Sie wirkte jünger als ich. Sie hatte dunkles, lockiges Haar und ein rundes, waches Gesicht mit vollen, bleichen Lippen. Alles an ihr wirkte weich: die glänzenden Locken, ihre kleinen weißen Hände, ihre von der Milch prallen Brüste, ihr runder Bauch, der sich noch nicht ganz zurückgebildet hatte. Sie trug eine schäbige cremefarbene Jacke, ihre Füße steckten in roten Hausschuhen, und auf ihrem schwarzen T-Shirt entdeckte ich eine Spur von Milch. Während sie so dasaß, strahlte sie sowohl Sinnlichkeit als auch Behaglichkeit aus. Zum erstenmal in meinem Leben regte sich bei mir so etwas wie ein Mutterinstinkt. Ich nahm meinen neuen Notizblock aus der Tasche und legte ihn auf meinen Schoß. Geschäftig zückte ich meinen Stift.
    »Warum haben Sie an Joanna geschrieben?«
    »Eine Freundin hat mir die Zeitung gezeigt. Ich weiß nicht, was sie sich dabei gedacht hat. Wahrscheinlich wollte sie mich darauf aufmerksam machen, daß ich von einem berühmten Mann vergewaltigt worden bin.«
    »Möchten Sie mir davon erzählen?«
    »Warum nicht?« antwortete sie.
    Ich hielt den Blick auf meinen Notizblock gerichtet und malte von Zeit zu Zeit irgendwelche Schnörkel aufs Papier, die hoffentlich wie Steno aussahen. Michelle sprach mit der müden Routine eines Menschen, der eine Anekdote schon viele Male erzählt hat. Zur Zeit des Vorfalls, wie sie es nannte – wahrscheinlich, weil dieser Begriff von der Polizei und während der Verhandlung benutzt worden war –, war sie achtzehn Jahre alt und befand sich auf einer Party, die in der Nähe von Gloucester stattfand. Die Party wurde von einem Freund ihres Freundes veranstaltet (»Tony war damals mein Freund«, erklärte sie). Auf dem Weg zu der Party hatte sie sich mit Tony gestritten, und er hatte sie allein dort zurückgelassen und war mit zwei Freunden in ein nahe gelegenes Pub gefahren. Vor lauter Ärger und Verlegenheit trank sie ziemlich viel Cider und billigen Rotwein, und das, obwohl sie an dem Tag noch kaum etwas gegessen hatte. Als sie Adam kennenlernte, war sie schon so betrunken, daß sich der ganze Raum um sie drehte. Sie stand gerade in einer Ecke und unterhielt sich mit einer Freundin, als Adam und ein anderer Mann hereinkamen.
    »Er sah sehr gut aus. Sie haben wahrscheinlich sein Foto gesehen.« Ich nickte. »Da standen diese zwei tollen Männer, und ich weiß noch, daß ich zu Josie sagte: ›Du kriegst den Blonden, und ich schnappe mir den Dunkelhaarigen.‹«
    Bis jetzt stimmte ihre Geschichte mit der von Adam überein. Ich malte eine traurige Blume in die Ecke meines Notizblocks.
    »Was ist dann passiert?« fragte ich. Aber ich hätte gar nicht nachhaken müssen. Michelle wollte ihre Geschichte loswerden. Sie wollte sie einem wildfremden Menschen erzählen, in der Hoffnung, daß sie ihr endlich

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