Höhenangst
Auf ihrem Gesicht breitete sich ein stolzes Lächeln aus. »Ja, nicht wahr?«
22. KAPITEL
»Sie haben was gemacht?«
Bis dahin hatte ich den Ausdruck, jemandem falle die Kinnlade herunter, immer für eine Metapher oder übertriebene Beschreibung gehalten, aber es bestand nicht der geringste Zweifel: Joanna Noble fiel die Kinnlade herunter.
Nachdem ich schon schockiert und traurig in den Zug gestiegen war, überfiel mich während der Heimfahrt echte Panik, als würde mir zum erstenmal bewußt, was ich da eigentlich getan hatte. Ich stellte mir vor, wie Michelle beim Participant anrufen und nach Sylvie Bushnell fragen würde, um sich über sie zu beschweren oder ihrer Geschichte noch etwas hinzuzufügen. Man würde ihr antworten, daß es bei ihnen keine Reporterin dieses Namens gebe, und sie würde sich statt dessen mit Joanna verbinden lassen. Die Spur zu mir war nicht allzuschwer zurückzuverfolgen. Wie würde Michelle über das denken, was ich mit ihr angestellt hatte? Eine weitere, ebenfalls nicht ganz unwichtige Frage war, was dann mit mir geschehen würde. Selbst wenn ich nicht direkt gegen das Gesetz verstoßen hatte, stellte ich es mir nicht gerade angenehm vor, meine Beweggründe Adam erklären zu müssen.
Ich beschloß, die Sache – soweit es mir möglich war –
sofort zu klären. Sobald ich in London eingetroffen war, rief ich von einer Telefonzelle aus Joanna an. Bereits am nächsten Morgen suchte ich sie in ihrer Wohnung in Tufnell Park auf.
Ich sah sie an.
»Sie sollten mal die Asche Ihrer Zigarette abstreifen«, sagte ich.
»Was?« fragte sie, immer noch völlig benommen.
Ich nahm eine Untertasse vom Tisch und hielt sie unter den sich neigenden Aschezylinder am Ende ihrer Zigarette. Nachdem ich sacht dagegengetippt hatte, fiel die Asche auf die Untertasse. Ich schickte mich an, das knappe Geständnis, das ich gerade gemacht hatte, ausführlicher zu erläutern.
»Ich schäme mich sehr, Joanna. Lassen Sie mich alles genau erklären. Hinterher können Sie mir dann sagen, was Sie davon halten. Also, ich habe Michelle Stowe angerufen und behauptet, eine Kollegin von Ihnen zu sein.
Ich bin zu ihr gefahren und habe mit ihr über das gesprochen, was damals zwischen ihr und Adam passiert ist. Ich mußte es einfach wissen, und mir ist kein anderer Weg eingefallen, um es in Erfahrung zu bringen. Aber es war falsch. Ich fühle mich schrecklich.«
Joanna drückte ihre Zigarette aus und zündete sich eine neue an. Dann fuhr sie sich mit den Fingern durchs Haar.
Sie war noch im Bademantel.
»Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht?«
»Ich bin mir vorgekommen wie eine Reporterin.«
»Sie hat Sie tatsächlich für eine Reporterin gehalten. Sie war der Meinung, im Namen aller Vergewaltigungsopfer eine mutige Erklärung abzugeben, aber statt dessen hat sie nur Ihre Neugier befriedigt. Sie haben sie auf die übelste Weise hinters Licht geführt, nur um zu erfahren, was Ihr Macker« – letzteres sagte sie voller Verachtung – »mit seinem kleinen Schwanz angestellt hat, bevor Sie mit ihm verheiratet waren.«
»Ich kann nichts zu meiner Verteidigung sagen.«
Joanna nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette.
»Sie haben ihr einen falschen Namen genannt?«
»Ich habe ihr gesagt, mein Name sei Sylvie Bushnell.«
» Sylvie Bushnell? Wo haben Sie denn das her? Sie …«
Aber dann konnte sie sich plötzlich nicht mehr zurückhalten. Erst versuchte sie ihr Kichern noch zu unterdrücken, aber dann prustete sie richtig los. Sie ließ den Kopf sinken und berührte mit der Stirn zweimal ganz leicht die Tischplatte. Dann zog sie erneut an ihrer Zigarette und mußte husten, weil sie immer noch lachte.
Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder gefangen hatte.
»Sie haben definitiv einen Sinn für Dramatik. Vielleicht sollten Sie meinen Job übernehmen. Ich brauche jetzt erst mal einen Kaffee. Möchten Sie auch einen?«
Ich nickte. Während wir uns weiter unterhielten, schaltete sie ihren Wasserkocher ein und gab ein paar Löffel gemahlenen Kaffee in eine Kanne.
»Was hat sie Ihnen erzählt?«
Ich faßte zusammen, was Michelle berichtet hatte.
»Hmm«, meinte Joanna. Sie wirkte nicht besonders beunruhigt. Als der Kaffee fertig war, kam sie mit zwei Tassen zurück an den Küchentisch.
»Und wie fühlen Sie sich nun, nach Ihrer Eskapade?«
Ich nahm einen Schluck Kaffee.
»Ich versuche noch immer, mir einen Reim auf das alles zu machen. Auf jeden Fall fühle ich mich ziemlich erschüttert. Unter
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